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geschrieben 2024 von Petrosilius (Petrosilius).
Veröffentlicht: 28.10.2024. Rubrik: Persönliches


Drei Reißnägel

In den 1970er Jahren war ich Mathematikstudent in einer Stadt in Baden-Württemberg.
Mein Studium finanzierte ich durch Nachhilfe und Jobs in den Semesterferien, z.B. als Briefträger, in einer Druckerei, durch Softwareentwicklung in einer bekannten Firma, z.B. durfte ich ein Programm schreiben (damals noch auf Lochkarten), mit Hilfe dessen Flugzeugteile – speziell die Tragflügel – für eine numerisch gesteuerte Werkzeugmaschine gefräst werden konnten. Und, um der provokanten Frage des mehr oder weniger geneigten Lesers (siehe Fußnote) zuvorzukommen: Es ist mir kein Flugzeugabsturz bekannt, an welchem ich irgendwie Mitschuld hätte.

Leider stellte sich aber jedes Semester das gleiche Problem ein:

Am Ende des Geldes war noch viel Semester übrig.

Ich suchte also nach einer Möglichkeit, nicht nur in den Semesterferien sondern regelmäßig Geld zu verdienen, das bisschen Nachhilfe als dauerhafte Einnahmequelle reichte einfach nicht.

Da entdeckte ich – vermutlich war es am schwarzen Brett in der Mensa - ein Angebot:
Privatschule sucht Student für Hausaufgabenaufsicht am Nachmittag. Gute Bezahlung.

Ich stellte mich der Schulleitung vor und bekam den Job. Zweimal die Woche nachmittags Aufsicht der nur männlichen Schüler bei deren Hausaufgabenzeit.
Das Wichtigste: Ich sollte für Ruhe und Ordnung sorgen!

Also saß ich ab jetzt dienstag- und donnerstagnachmittags ab 14 Uhr in einem Klassenzimmer vorne am Lehrerpult, ziemlich verunsichert und fragte mich, wie ich denn die Jungs ruhig stellen könnte. Ich kannte ja die herausfordernd schauenden und zu Grenzen austestenden bereiten Burschen ja nicht, wusste keinen einzigen Namen, so dass bereits ein Eintrag wegen Ruhestörung ins vor mir liegende Klassenbuch unmöglich erschien.

Aber bald bekam ich Nachhilfe in Erziehungsfragen:

Bereits an meinem ersten Nachmittag ging ein Raunen durchs Klassenzimmer, einer der Schüler sprach die Warnung aus:
„Der Alte läuft frei rum“.

Plötzlich war es in der Klasse auffallend still.

Da ging auch schon die Tür auf und darin stand der Schulleiter:
Groß, stattlich, altersmäßig schon weit nach der Pensionsgrenze, eine Art General, vermutlich mit großer militärischer Erfahrung.

Suchend nach einem Opfer trat er ins Klassenzimmer. Mir warf er einen vorwurfsvollen, vielleicht auch mittleidigen Blick zu. Vermutlich war er der Ansicht, ich sei seiner Forderung nach absoluter militärischer Disziplin im Klassenzimmer nicht ganz(?) gewachsen.

Nun folgte die Taschenkontrolle. Und ich war sehr froh, dass er sich nur die Taschen der Schüler vornahm.
Und er wurde fündig: Triumphierend zog er aus einer Schülertasche eine fast volle Packung Zigaretten hervor. Der Schüler musste vortreten. Dann schritt der Schulleiter zum Waschbecken und setzte die Zigarettenpackung unter Wasser. Die vor Nässe triefende Packung drückte er dem betreffenden Schüler dann mit Schmackes in die Hosentasche.

Damit verließ er den Raum und begab sich auf die Suche nach Disziplinverfehlungen in anderen Klassenzimmern.

Zum damaligen Zeitpunkt und auch schon früher war mir klar, dass ich nie Lehrer werden will.

Später bin ich es aber doch geworden. Na ja, manchmal (eher oft) kommt es halt anders.

Eine weitere Erfahrung, die mich dann als Lehrer Jahrzehnte lang verfolgt hat, will ich noch schildern:

Wie erwähnt waren in dieser Privatschule Jungs, welche eine harte und von militärischem Drill geprägte schulische Erziehung erleben durften. Einige weitere solcher Erziehungsmaßnahmen durfte ich in dieser Zeit selber miterleben, dazu vielleicht aber später mal mehr.
Und da ich nicht nur Mathematik, sondern auch Physik studierte, kannte ich das Prinzip „Actio-Reactio“.
So kam ich also eines Nachmittags in meine zu betreuende (d.h. zu disziplinierende) Klasse, begrüßte die Schüler und setzte mich wie immer auf meinen Lehrerstuhl aus Holz.

Aber was war das? Ich spürte starke Schmerzen und fühlte, dass ich blute.
Natürlich versuchte ich mir vor den Schülern keinerlei Blöße zu geben, mir nichts anmerken zu lassen, aber alle Schüler blickten mich erwartungsvoll an, gespannt auf meine Reaktion.
Dann konnte ich den Schmerz lokalisieren:
Er kam vom Gesäß her. Und die Ursache war damit auch schnell gefunden:
Die Schüler hatten mir drei Reißnägel auf den Lehrerstuhl aus Holz gelegt, natürlich alle mit der Spitze nach oben.

Wie dieser Nachmittag weiterging, das weiß ich nicht mehr.

Aber ich habe was gelernt:

In all den nachfolgenden Jahrzehnten als Lehrer habe ich mir immer genau jeden Stuhl angeschaut, bevor ich mich draufsetzte.
Auch heute noch im Cafe oder Restaurant: Ich schaue mir zu Beginn immer genau das Sitzmöbel, besonders die Sitzfläche, an.

Und noch was habe ich gelernt:

Lernen funktioniert dann besonders gut und nachhaltig, wenn viel Emotion im Spiel ist.

Fußnote: Ich hab mir das schon mit dem Gendern überlegt, mich aber dann dagegen entschieden, da der Lesefluss erheblich beeinträchtigt wäre. Sorry! Selbstverständlich sind aber alle (momentan 72) Geschlechtsidentitäten gemeint.

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