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geschrieben 2015 von Donat Friedrich (Donatus).
Veröffentlicht: 21.08.2015. Rubrik: Unsortiert


Im Frühling

IM FRÜHLING

Draußen regnete es seit Tagen. Nur selten ließ die dichte Wolkendecke einen verschämten Lichtstrahl durch, um den herum dann die feuchte Luft zu dampfen schien. Durch das Fenster in seinem Zimmer konnte er im Liegen einige Baumwipfel noch sehen. Er wusste, die Bäume müssten betörend riechen – die bunte Blütenpracht des Frühlings und das pulsierende Gedeihen der Natur schienen seine Schmerzen noch zu vergrößern. „Entstehen und Vergehen – es ist immer alles nebeneinander und gleichzeitig da“, dachte er nach.
Die Schmerzen, die ihm seine Krankheit bescherte, kamen in Wellen und Schüben; dann gingen sie wieder für eine Weile und ließen ihm Raum für andere Gefühle. In diesen Momenten starrte er meist auf das Bild, das auf dem Schränkchen neben seinem Kopfkissen stand. In seinem Zimmer war es das einzige, das ein bisschen bunt war, abgesehen von dem Bildschirm der Apparaturen, die seine Vitalfunktionen überwachten. Das vergilbte Foto zeigte seine Frau und ihn in jungen Jahren, Hand in Hand und mit einem unbeschwerten Lachen inmitten eines Gartens voller Obstbäume – Blüte tragend im Frühling. Er dachte zurück an diese Tage, diese Jahre, als das Leben noch vor ihm gestanden hatte, als er unbekümmert sein Herz an alles vergab, was ihn berührt hatte.
„Wo sind diese Momente geblieben, wo die Freude, die durchdringende Lust am Leben? Wie konnte mir das alles durch die Finger gleiten?“, fragte er sich jetzt oft voller Bedauern. „Habe ich den Sinn niemals verstanden – warum habe ich nicht versucht, zu verstehen?“
Die Tränen liefen ihm langsam über sein Gesicht, benetzten sein Kissen und den Kragen seines Schlafanzuges, der seine einzige Kleidung geworden war. Dass er dafür nicht mehr viel Zeit hatte, wusste er. Die Ärzte sagten, er habe nicht mehr lange. Nie im Leben zuvor hatte er wirklich Angst gehabt, zumindest ließ er die Angst nicht in sein Herz, drängte sie beiseite, in die unergründeten Ecken seiner inneren Räume. Nun jedoch lähmte ihn seine Furcht, schnürte ihm die Kehle zu. Hinzu kam ein Bedauern aus tiefster Seele, ein Bedauern, sich niemals dem Wichtigen gestellt zu haben, eine Ahnung, alles stets aufgeschoben zu haben. Auch wenn er gar nicht genau wusste, was das hätte sein können. „Wir leben alle das gleiche Leben, in nichts unterscheiden wir uns voneinander. Wir alle sind verbunden durch das gleiche Schicksal von Geburt und Tod – und doch machen wir uns was vor. Ergründen nicht, was das alles bedeutet. Wollen uns nicht dem Undenkbaren stellen, wollen jede Menge Antworten, stellen aber nie die richtigen, die wesentlichen Fragen“, sagte er sich immer wieder, wenn er nach einem langen Blick auf sein Foto die Augen schloss. Er stellte sich dann vor, er hätte damals die Bewusstheit haben können, die ihm jetzt durch den nahenden Tod zuteil geworden ist.
„Ich habe – ja, was habe ich getan? Wie konnte es kommen, dass ich jetzt alleine im Krankenhaus sterben werde, wie kann es sein, dass ich mich jetzt erst frage, was Leben und Sterben bedeuten, dass ich mich so unvorbereitet fühle?“, ging ihm durch den Kopf. Es erschien ihm völlig absurd und nichtssagend, womit er Lebenszeit vergeudet hatte. Ein Haus zu kaufen und dafür Schulden abtragen, Altersvorsorge, Sorgen um die Zukunft, die teuer erkaufte Illusion von Sicherheit, die Arbeit, die keine Berufung gewesen war, auf die er jetzt nur gelangweilt zurückschauen konnte, oberflächliche Beziehungen und Ärger mit anderen Menschen. Und Wut, soviel Wut. Bis vor gar nicht so langer Zeit war er in diesen Verstrickungen gefangen gewesen. Mit Wucht ereilte ihn Erkenntnis. „Ein ungelebtes Leben, leer und unwissend.“
Er fand keine Ruhe mehr, er schaffte es nicht, sich zu verzeihen. Ahnte jetzt stechend die Kostbarkeit eines wahrhaftig gelebten Lebens – eingebettet in seine Angst und in seine Verbitterung.
Eines Morgens überwältigten ihn wieder seine Schmerzen. Wenn sie unerträglich wurden, drückte er gewöhnlich den Knopf, rief die Schwester, um sich mehr Schmerzmittel geben zu lassen. Diesmal tat er es nicht. Er wollte kämpfen. Gegen die Schmerzen ankämpfen in der Hoffnung, mit den körperlichen auch die Schmerzen in seiner Seele auszuhalten und zu besiegen. Mit geballter Faust und knirschenden Zähnen hielt er den Qualen stand, Tränen trübten seinen Blick auf das Foto und die Blüten der Bäume, die jetzt in der Morgensonne leuchteten. Die Geräusche des Lebens draußen, die durch den Spalt des gekippten Fensters ins Zimmer drangen, wurden leiser. Verstummten, bis er nur noch seinen eigenen flachen Atem hören konnte, bevor er schließlich einschlief.
Als er erwachte, fühlte er sich großartig. Erleichtert. „Es hat sich gelohnt; es lohnt sich zu kämpfen, den Schmerz auszuhalten“, sprach er leise aus. Er stand auf und verspürte das Verlangen, ans Fenster zu gehen und dem Leben zuzusehen – dem Leben, wie es sich entfaltet, wie Scharen kleiner Insekten geschäftig Nektar suchen, auf der Flucht vor Schwalben, die kaskadenartig den stahlblauen Himmel durchstreifen, wie die farbenprächtigsten Blumen ihre Blüten der wärmenden Sonne entgegendrehen. Er stand am Fenster und konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Er empfand tiefen Frieden und sprudelnde Freude inmitten der ereignislosen Stille seines Zimmers.
„Sonderbar…“, dachte er. Ihm fiel erst jetzt auf, mit welcher Mühelosigkeit er von seinem Bett aufgestanden und ans Fenster gelaufen war, sich von den Apparaturen losgemacht hatte. „Sonderbar, wie wenig Kraft mich das Stehen kostet“, dazu war er schon lange nicht mehr in der Lage gewesen. Wie er an die Wand gelehnt die Welt beobachtete, nahm er mit Verwunderung hin, dass seine Wahrnehmung sich anders anfühlte. Als ob er um die Ecken des Gebäudes herum sehen könnte, wusste er, was auch dort geschah. Menschen, die besorgt ihre kranken Verwandten und Freunde besuchen kommen, gingen durch den Eingang, eine Mutter mit ihrer hübschen kleinen Tochter verließ das Gebäude, wohlwissend, dass ihr Mann, den sie sehr liebte, wieder gesund werden würde. Wie sich die Menschen fühlten, konnte er auch genau nachfühlen. Überhaupt schien er mehr zu verstehen und zu wissen, als jemals zuvor in seinem Leben. Kristallklar breiteten sich Erkenntnisse vor ihm aus, gaben sich ihm vermeintliche Geheimnisse preis. Eindringlich und unwiderruflich wusste er, dass alle Menschen miteinander verbunden sind, dass ihre Seelen voller Frieden und ewiger Liebe sind, sah ihre Wahrheit hinter ihren Lebensumständen, fühlte, was sie davon abhielt, es selbst zu erkennen. Gleichzeitig spürte er, wie diese lebendige Kraft hinter der Welt der Erscheinungen im Verborgenen wirkte und nichts dem Zufall überließ.
Seine Verwunderung wich einem unerschütterlichen Vertrauen, der völligen Freiheit von Angst. In diesem Moment vernahm er sehr genau, dass sich ihm jemand hinter seinem Rücken näherte. Er spürte die Präsenz sehr deutlich und wusste, es war jemand, der ihn bedingungslos liebte. Langsam, leicht nervös richtete er seinen Blick vom Fenster zur Mitte seines Zimmers.
Was er sah, ließ ihn erschaudern. Es war niemand im Raum.
Erst jetzt begriff er, was tatsächlich mit ihm passiert war und wie es um ihn stand. Die wenigen Schritte zu seinem Bett waren keine Schritte, er bewegte sich nicht physisch – denn seinen Körper sah er im Bett liegend, ohne Atem, mit von Schmerzen verzerrtem Antlitz, seine Hände zu Fäusten geballt auf seiner Brust.
„Ich bin tot“, hauchte er sich selbst ins leblos erstarrte Gesicht. „Mein Körper ist tot…“ Er war selbst überrascht, dass er im Moment dieser Erkenntnis derart ruhig blieb – ja nicht nur ruhig und gefasst, sondern erleichtert. Die Situation empfand er nicht als spektakulär, nicht ungeheuerlich oder verstörend. Er fühlte, dass diese Regungen aus einer anderen Quelle hätten kommen müssen, aus einer Quelle, mit welcher er im Moment nicht in Verbindung stand. Er fühlte, dass er sich in seinem Zustand in anderen Dimensionen des Begreifens befand – in einer umfänglicheren Dimension der Realität. „Ich bin gerade erst aus einem Traum erwacht, ich…“, er zögerte, da ihm jetzt selbst dieses Wörtchen `Ich` und das Konzept dahinter befremdlich vorkamen. „Wir schlafen im Leben, wir verschlafen unsere Zeit, solange wir diesen Schritt nicht tun.“ Mit dem Schritt bezeichnete er etwas, was er zeitlebens nur vage erfassen konnte und leichtfertig abtat, wenn jemand vom Unterschied zwischen dem Verstand und dem Herzen gesprochen hatte. „Das Herz und die Gefühle sind der Schlüssel. Sie sind das Tor zu einer größeren Wirklichkeit, zu einem anderen Leben, zu Erfüllung und Wahrheit. Wir alle wissen, dass es da etwas gibt, intuitiv wissen wir es alle. Wir versuchen, es aus dem Verstand heraus zu verstehen – bleiben auf diese Weise leer. Das Herz hat seine eigene Intelligenz, die mit dieser Realität kommunizieren kann. Es ist unsere innere Stimme.“
In diesen Moment der innigen Stille platzten geräuschvoll zwei Ärzte und zwei Schwestern herein; offenbar hatten die Geräte Alarm geschlagen und sie befürchteten, dass er verstorben war. Ihm bisher vertraute zeitliche Dimensionen besaßen jetzt keine Gültigkeit, da er wusste, dass höchstens einige wenige Minuten vergangen sein konnten zwischen seinem Tod und dem Jetzt. Ihm kam es vor wie ein halber Tag.
Er sah von oben auf seinen Körper herab, sah die Menschen aufgeregt um ihn herumspringen in dem Versuch, ihn vielleicht doch noch retten zu können. Sie flößten ihm irgendeine Substanz ein, starteten die Wiederbelebungsmaßnahmen. Die Schmerzen, die belastende Schwere des Körpers, die Unwissenheit, die unvollkommene Qualität seiner Liebe – all das hätte er mit Leichtigkeit zurücklassen können, er war bereit, zu gehen. Er hatte sich entschlossen.
„Deine Zeit ist noch nicht gekommen, du musst zurück!“ Die vertrauteste und liebevollste Stimme, die er je vernahm, vermittelte ihm die Botschaft, die ihm das größte Unbehagen bereitete, ein Unbehagen und eine Trauer, die er mit Worten nicht hätte beschreiben können. Er wollte nicht zurück. Um nichts in der Welt – dennoch fühlte er, dass die Kraft dieser Entscheidung den Raum wie ein Netz aus Strahlen erfüllte, den Äther zum Zittern brachte. Er musste seinen Blick nicht wenden, um zu sehen. Er sah ein Kegel aus weißestem Licht, in dem die Seelen, die ihn liebten, ihm zu verstehen gaben, dass es so in Ordnung sei, dass alles in Ordnung sei.
Recht dumpf zuerst, dann immer lauter und stechender pochten die Geräusche in seinen Ohren, marterten seinen Kopf, der genauso wehtat, wie sein ganzer Körper, den er schwer wie Blei empfand und der ihm fremd vorkam. Wieder durch seine Augen zu sehen – erst dunkel, dann trüb und unscharf – versicherte ihm, dass er die allumfängliche Realität wieder verlassen hatte und sich in der physischen Welt befand. Die Menschen um ihn herum gestikulierten wild, schrien sich an, prüften die Apparaturen und beglückwünschten sich, als hätten sie ihm das denkbar Kostbarste wiedergegeben, das er beinahe verloren hätte.
Er verstand nicht. Noch verstand er nicht, warum er zurück musste. Inmitten all der körperlichen Qualen, in dieser unpersönlichen und kalten Atmosphäre eines Krankenzimmers zwischen Maschinen aus Metall, mit Nadeln unter seiner Haut und von Unbekannten umgeben spürte er indes ganz deutlich, wie sein Herz glühte, wie es vor Liebe und Freude beinahe aus seiner Brust sprang und ihm subtil zuflüsterte, dass er wieder gesund werden würde.
Er verstand noch nicht. Er verstand jedoch, dass er nicht verstehen musste. Er starrte in das Weiß der Decke und fing an, leise zu schluchzen – seine Tränen benetzten sein Kissen und den Kragen seines Schlafanzuges.

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