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geschrieben 1997 von Simon Deimel (Siddi).
Veröffentlicht: 02.05.2013. Rubrik: Total Verrücktes


Kurzer großer Moment

Manche Menschen haben die Angewohnheit, die verständliche Neigung, unangenehmen Situationen aus dem Wege zu gehen, während sich andere im Stress wälzen, um das Leben zu spüren. Bis vor kurzem habe ich mich zu den ersteren gezählt, mittlerweile jedoch habe ich die Fronten gewechselt. Seit der Verabredung stelle ich mich dem Leben.

SatirepatzerSatirepatzerIch weiß noch genau, wie es zu dieser Verabredung kam... ich dachte einfach, ich hätte noch eine Chance. Deshalb rief ich eines Tages bei Carol an, einem Mädchen, das ich seit meiner Kindheit kannte und in das ich mich irgendwann verliebte, ich glaube, es muss mit fünfzehn oder sechzehn Jahren gewesen sein. Ich gestand ihr meine Zuneigung damals nicht; ich war zu feige dazu. Später hielt ich es dann für unsinnig, ich hätte nichts anderes als die üblichen Sprüche zu erwarten gehabt, von wegen „wir kennen uns doch schon so lange, das hat gar keinen Zweck“, gefolgt von dem obligatorischen „wir können ja gute Freunde bleiben“. Darauf konnte ich ebenso gut verzichten, also ließ ich die ganze Sache auf sich beruhen. Als Carol dann später mit einem Typen zusammenkam, von dem ich nicht viel mehr wusste, als dass er Alex hieß und drei Jahre älter war als wir, fing es an, deprimierend für mich zu werden. Sie fast jeden Tag zu sehen, weil wir mehrere gemeinsame Kurse in der Schule besuchten, und gleichzeitig zu wissen, dass sie einen anderen hatte, war wahrlich kein Vergnügen. Den Rest der Schulzeit verbrachte ich mit Tagträumereien und verzweifelten Blicken, die sie niemals bemerkte. Schließlich trennten sich unsere Wege. Carol ging zum College nach Oxford, während ich eine weniger karrierebewusste Laufbahn einschlug und mich zum Bankkaufmann ausbilden ließ. Zwei Jahre vergingen, ohne dass wir uns begegneten, aber ich musste mich immer wieder dabei ertappen, dass ich, wenn die Melancholie mich heimsuchte, was dann und wann der Fall war, an sie dachte. Ich will nicht behaupten, dass ich in dieser Zeit nicht auch anderen Mädchen hinterhergeschaut hätte, und sicher hätte ich an der einen oder anderen längerfristig Gefallen finden können, aber ich war nicht in der Lage, Carol aus meiner Erinnerung zu streichen. Ich hatte ihr Gesicht vor meinen Augen, ihre Stimme in meinen Ohren, immer genau dann, wenn ein Mädchen mich ansprach, und ich brachte kein Wort mehr heraus, beim besten Willen nicht.
Es hatte etwas zu bedeuten, dass Carol mich noch nach so langer Zeit in ihren Bann zog, dessen war ich mir bewusst. Es gab für mich eine Aufgabe, die zu erledigen war. Ich musste nachholen, was ich vor Jahren nicht zustande gebracht hatte, musste Carol wiedersehen, koste es, was es wolle, musste ihr mitteilen, wie ich all die ganzen Jahre über sie gedacht hatte. Ich musste in Erfahrung bringen, wie es ihr in Oxford erging, und insgeheim hoffte ich auf eine zweite Chance bei ihr, auch wenn ich befürchten musste, dass sie einen Freund hatte, sei es Alex oder sonst wer. Und wenn schon, selbst wenn sie mit irgendwem zusammen war, sollte ich es hinkriegen, dass sie sich mit mir traf, dann würde sie ihn vielleicht verlassen und mit mir ein neues Leben anfangen... in meinen Träumen gab es keine Grenzen mehr.
Ich weiß nicht, wie viele Telefonbücher ich durchgeblättert und wie viele Anrufe bei Bekannten ich gemacht hatte, bis mir endlich die Nummer in die Hände fiel, unter der sie zu erreichen war. Wie anfangs erwähnt, ich rief sie an, und ich muss gestehen, dass mein Herz wie wild am Pochen war, während ich, mit dem Hörer in der Hand, wartete, bis sie am anderen Ende abnahm. Nach dem dritten Läuten meldete sich jemand mit Nachnamen: „O’Neill.“ Sie war es! Carol! Der Klang ihrer Stimme ließ mich erschaudern. Ich stockte, dann brachte ich hervor: „Hallo, ich bin’s – Dave.“
Sie erinnerte sich an mich; sie brauchte zwar einige Sekunden, um ihre Erinnerungen zu ordnen, doch dann äußerte sie, wie überrascht sie sei, mich zu hören. Wir quatschten kurz über Gott und die Welt, aber dann ging ich aufs Ganze. Ich fragte sie, ob sie mich treffen wolle, ohne groß darüber nachzudenken, ich konfrontierte sie einfach mit dieser Frage, ohne Vorwarnung. Ich malte mit nicht aus, was sie antworten könnte, dennoch war ich schwer überrascht, von ihr die Worte „ja, warum nicht“ zu hören. Es war kaum zu glauben, aber wir machten einen Termin aus, an dem ich sie in Oxford besuchen sollte. In drei Tagen war Samstag, da sollte ich bei ihr vorbeischauen.
An jenem besagten Tag stand ich unter Strom. Ich sprang schon um sechs Uhr morgens aus den Federn, weil ich viel zu aufgeregt war, um schlafen zu können. Den ganzen Morgen über schwebte ich in Gedanken an die Frau meiner Träume, machte mir ein Bild davon, wie unsere Verabredung verlaufen könnte, wohin sie führen könnte. Mein Mittagessen war gewürzt von Phantasien, die sich um Carol drehten, ein süßes Aroma... und während ich es mir auf der Zunge zergehen ließ, hatte ich eine Vorahnung, dass ich die folgende Nacht nicht in meinem eigenen Bett verbringen, sondern in Oxford verweilen, in Carols Armen einschlafen würde, eine intensive Eingebung – diese Vision konnte nicht nur auf bloßer Einbildung beruhen. Sie war nicht nur ein Traum, zwar keine Realität, aber dazu bestimmt, real zu werden, da war ich sicher. Kurz nach dem Mittagessen brach ich dann auf. Nichts konnte mich mehr in meiner Heimatstadt halten. Ich setzte mich in meinen roten Ford und machte mich auf den Weg nach Oxford.
Die Fahrt dauerte eine gute Stunde. Es war ein warmer Frühlingstag, und ich kam gut voran. Ich war wie in Trance... es kam mir vor, als sei alles nur ein Traum. Die Realität bestand nicht länger nur aus dem, was ich erlebte, sondern auch aus meinen Hoffnungen; das, wofür es sich zu kämpfen lohnte, war auf die gleiche Ebene gerückt. Vielleicht gab es eine Chance für mich, die wahre Liebe zu finden – bei wem sonst, wenn nicht bei Carol? Ich war voller Zuversicht.
Mit guter Laune und Erwartungen an den Tag erreichte ich Oxford. Es dauerte etwas, bis ich das Studentenwohnheim gefunden hatte, in dem Carol Unterkunft bezog. Als ich vor ihrer Wohnungstür stand, spürte ich dieses Kribbeln im Bauch, das einen ganz wahnsinnig macht. Die Türglocke klang angenehm, aber das Gefühl der Aufregung blieb bestehen. Die Tür öffnete sich, und da stand sie vor mir. All die ganzen Jahre hatte ich diesen Moment herbeigesehnt. „Hallo Dave, komm herein.“ Ihre Stimme klang weich und sanft, in meinen Ohren eine Symphonie, und ich bekam eine Gänsehaut im Nacken, so klischeehaft es auch klingen mag. Ich trat ein.
Wir saßen in ihren Wohnzimmer, tranken Tee und führten unsere Unterhaltung fort, in der Weise, wie wir sie schon bei unserem Telefongespräch begonnen hatten. Wir sprachen über Alltägliches, Banales. Doch unsere Konversation war Nebensache. Viel entscheidender war, dass ich sie sehen durfte, ihre vollen Lippen, ihr langes blondes Haar... einige Male musste ich mich zusammenreißen, um nicht damit herauszuplatzen: „Carol, du siehst einfach umwerfend aus.“ Das Spannende war, dass ich genau wusste, dass ich ihr an jenem Tag ein solches Kompliment machen würde; ich wartete nur noch auf den richtigen Zeitpunkt. Der große Moment würde kommen, und alles würde ein gutes Ende nehmen.
Da ich nur Augen für Carol hatte, war mir das Innere ihrer Wohnung fast völlig entgangen. Erst als sie mich fragte, was ich denn von ihrer Einrichtung hielte, und ich den Blick von ihr abwendete, bemerkte ich die eingerahmte Fotografie an der Wand, ein neueres Bild einer Person, die mir in meiner Vergangenheit Kopfzerbrechen bereitet hatte, weil eben diese Person der Freund von Carol gewesen war. „Hey, ist das nicht Alex Templeton, mit dem du mal gegangen bist?“ rutschte mir heraus. „Ja, ich war mit ihm zusammen – und bin es immer noch“, gab sie von sich, wahrscheinlich ohne zu ahnen, dass genau dieser Satz der Zauberspruch war, mit dem sie Träume vernichtete.
Was nun folgte, war eine psychische Tortur für mich. Carol berichtete in allen Einzelheiten von ihrer Beziehung, und sie ließ nicht den geringsten Zweifel an der Perfektion ihrer Verbindung mit Alex aufkommen. Sie erzählte, dass sie seit vier Jahren glücklich zusammen seien, auch wenn es während dieser Zeit mehrmals danach ausgesehen habe, dass eine Trennung unvermeidlich sei. Sie erzählte, dass sie im Urlaub verreist seien, nach Frankreich. Sie erzählte, dass sie sich mit Alex eine gemeinsame Wohnung suchen wolle, sobald sie ihr Studium abgeschlossen habe – zur Zeit wohne er fast fünfzig Meilen entfernt in dem Ort, in dem er auch seiner Arbeit nachginge; ihrer Beziehung schade es jedoch nicht, wenn sie sich nur jeden dritten Tag sähen, fügte sie unbarmherziger Weise hinzu. Ich kam gar nicht mehr zu Wort. Sie erzählte und erzählte, und ich konnte nichts tun als eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich wagte es nicht, ihren Redefluss zu unterbrechen, also täuschte ich Interesse vor, wo keines vorhanden war. Mehrmals versuchte ich unterschwellig, ein anderes Thema anzustimmen, aber ich erreichte nichts. Carol schien wie von einer Manie besessen zu sein.
Dadurch, dass Carol sich nicht mit mir, sondern mit sich selbst unterhielt, war meine gute Laune schnell dahin. Die Tatsache, dass meine Vorahnung wohl doch nur liebestolle Einbildung gewesen war, wirkte wie ein Schlag ins Gesicht auf mich. Ich kam mir unsagbar naiv vor, denn ich würde ganz sicher nicht in Oxford übernachten, im Gegenteil, mir war danach, Carols Wohnung so schnell wie möglich zu verlassen. Ich merkte, wie mir die ganze Angelegenheit auf den Darm schlug. „Wo finde ich denn dein Bad?“ fragte ich Carol.
Im Bad konnte ich kurz Luft schnappen und die Situation überdenken, was mir noch wichtiger war als jenem Bedürfnis nachzukommen, welches jeder gesunde Mensch mindestens einmal täglich hat. Sollte dieses der große Moment gewesen sein – zu erfahren, dass Carol noch in festen Händen war und ich nichts daran ändern konnte? Ich verspürte den Wunsch, ihr zu verdeutlichen, wie ich mich fühlte, aber ich ahnte, dass ich keine Gelegenheit mehr haben würde, ihr meine Gefühle darzulegen... als mir aus heiterem Himmel ein Einfall kam, und ich war überrascht, zu welch verrückter Aktion mich meine Spontaneität verleitete. Ich konnte Carol gegenüber nicht sentimental werden, denn ich fürchtete, dabei lächerlich zu wirken; es musste etwas Subtileres sein, etwas, das sie nicht mehr vergessen würde.
Ich ließ meine Hosen herunter und entleerte meinen Darm, nicht in die Toilette, sondern auf den Deckel, den ich erst gar nicht hochgeklappt hatte und auf den ich mich mit den Händen abstützte. Stehend säuberte ich mich, dann hob ich den Deckel nur ein Stück an, so dass die ganze Bescherung nicht hinunterrutschte, warf das von mir benutzte Toilettenpapier hinein und zog ab. Einen kurzen Augenblick betrachtete ich mein Kunstwerk. Der Exkrementhaufen auf dem Toilettendeckel war von bizarrer Aussagekraft. Er sollte als Botschaft für Carol dienen, sollte ihr symbolisieren, wie ich mich in dieser Sekunde fühlte. In doppelter Hinsicht erleichtert verließ ich das Badezimmer.
Hastig verabschiedete ich mich von Carol. Sie wunderte sich mit den Worten: „Oh, du willst schon wieder fahren?“ über meinen eiligen Aufbruch und bedankte sich für meinen Besuch, ich war jedoch überzeugt, dass es sich hierbei um nichts anderes als Floskeln der Höflichkeit handelte, die eigentlich nicht das Geringste aussagten. Sie rief mir nach, ich solle mich doch mal wieder melden. Ich wusste schon, dass ich dieser Aufforderung nicht nachkommen würde.
Auf der Heimfahrt ging ich meinen Gedanken nach und stellte einige Überlegungen an. Was würde Carol denken, wenn sie die verdaute Masse auf dem Toilettendeckel entdeckte? Würde sie die Botschaft darin verstehen oder mich für einen perversen Idioten halten, der aus keinem anderen Grund zu ihr gekommen war, als um sie in Abscheu zu versetzen? Ich würde es wahrscheinlich nie erfahren.

Wie ich eingangs anmerkte, habe ich eine Lehre aus diesem Erlebnis gezogen. Ich habe erkannt, dass unangenehme Situationen der Persönlichkeitsentwicklung durchaus dienlich sind; man sollte deshalb jede Erfahrung mit sich nehmen, denn keine Erfahrung ist schlecht, sofern man etwas aus ihr lernt. Die Hölle auf Erden kann ein ganz wundervoller Ort sein, wenn sie einem dabei behilflich ist, das eigene Selbst näher zu erforschen.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Molle am 15.03.2016:

Was machst Du, wenn sie Dich demnächst ganz zufällig triffst?

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