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2xhab ich gern gelesen
geschrieben 2018 von Carl-Paul Hénry (Carl-Paul Hénry).
Veröffentlicht: 30.03.2018. Rubrik: Menschliches


WINNETOU

Wie zählen die Apatschen bis "drei"? - "Winne-one, Winne-tou, Winne-three."

Ich hasste die Schule. Jedenfalls die ab der fünften Klasse in der Mittelschule, wie man früher noch sagte. Nach den Sommerferien1966 sollte es losgehen. Ein Jahr zuvor war meine Familie an den östlichen Stadtrand in das Neubaugebiet gezogen, wo auch Freund Thomas zwei Strassen weiter wohnte. Wir kannten uns vorher schon von den legendären Ausflügen der Jugendgruppe jedes Jahr am "Tag der Arbeit".

Die Mittelschule lag am Ende der recht langen Michaelisallee, direkt neben dem Fußballstadion. Von zu Hause bis dahin brauchte ich 35 Minuten strammen Schrittes, wenn ich nicht unterwegs in den Dauerlauf eines Trappers verfiel (erst das Gewicht auf den linken Fuss verlagern und dann nach einer Minute auf den rechten, wie es in den Winnetou-Romanen von Karl May beschrieben ist), weil ich es wegen des morgendlichen Verschlafens in 20 Minuten schaffen musste.

Auf dem Rückweg, meist nach der 6. Stunde, ging es mir wesentlich besser, denn da war ich nicht irgendein Trapper, sondern Winnetou, der Häuptling der Apatschen, selbst, so wie ich ihn ein Jahr zuvor in dem Film „Der Schatz im Silbersee“ mit Pierre Brice und Lex Barker im Kino gesehen hatte. Statt zu Fuss zu trotten, saß ich jetzt stattdessen auf Iltschi, dem schwarzen Rappen, und mein kurzer Kommisshaarschnitt hatte sich in meiner Phantasie in eine lange, im Wind wehende, schwarze Mähne verwandelt. Die Aktentasche war meine „Silberbüchse“, aus der ich alle zehn Meter hörbar (ich machte die Schussgeräusche ziemlich echt mit dem Mund nach) einen Schuss auf Santer, oder auf die feindlichen Komantschen abgab. Und natürlich war ich wie Winnetou mit einem Lederfransenkostüm gekleidet.

Nach dem langen "Ritt" durch die Kastanienallee, über die Bismarckstrasse an der damals noch stehenden Michaeliskirche und dem Polierteich vorbei, die Treppe hoch zum Landeskrankenhaus, einer Heilanstalt für psychisch kranke Menschen, und durch den gesamten östlichen Stadtbezirk, gelangte ich an die große Wiese, die wir nur das „Feld“ nannten. Für mich begann nun das eigentliche Spektakel. Von weitem schon konnte ich das Elternhaus sehen, neben dem später der Kindergarten gebaut wurde, und es war natürlich das Pueblo der Mescaleros-Apatschen, die mich schon von weitem laut begrüßten: „Winnetou kommt, Winnetou kommt.“ Dabei hörte ich ganz klar und deutlich die Musik von Martin Bötttcher, die den Film „Der Schatz im Silbersee“ untermalt hatte und einem Jungen von damals niemals mehr aus dem Kopf gehen wird.

Thomas, ein paar weitere Jungs aus der Nachbarschaft und ich hatten zu der Zeit die sogenannte „Weiße Bande“ gegründet, die vor allem deshalb gefürchtet war, weil wir einen Jungen, der von seinen Eltern das Verbot hatte, nicht mit uns spielen zu dürfen, eines Tages abfingen und ihn in einem Wäldchen unten am Johannistalerweg folterten. Wir banden ihm die Füße an einer Wurzel fest, legten ihn mit dem Rücken über einen Ast und befestigten seine Arme auf der anderen Seite mit einem Tau ebenso am Boden. Das war schon schlimm genug. Doch wir hatten an dem Tau einen Knebel, so wie es auch Karl May beschreibt, befestigt, und drehten diesen, damit sich das Seil und der Körper unseres Opfers mehr und mehr strafften. Manitu sei Dank, passierte nicht Schlimmeres und Manitu sei Dank, ist das Ganze inzwischen verjährt:)

Abends kam die Mutter mit ihrem gepeinigten Sohn zu uns nach Hause und ein "Arschvoll" - erst mit dem Kochlöffel, bis er brach, von meiner Mutter, und später abends dann mit dem ''Teppichklopfer von meinem Vater - war fällig. Ob es damals schon Jugendämter gab, weiß ich gar nicht, aber die wären eh für "Indianer" nicht zuständig gewesen.

Eines Tages nun beschlossen wir, dass wir in unserer Bande Klarheit schaffen, und einen Häuptling wählen sollten. Aufgrund meiner Winnetouphantasien war ich dafür natürlich prädestiniert. Aber komischerweise wollten die anderen nicht so recht mich, sondern Thomas als Chef der Truppe. Das ließ ich mir aber nicht gefallen und ich hielt eine glühende Wahlrede, in der ich alle meine Vorzüge anpries. Es half nichts. Bei der anschließenden wildwest-demokratischen Wahl erhielt Thomas eine Stimme mehr als ich, und statt Winnetou wurde nun Old Shatterhand der Anführer unserer Gang.

Natürlich war ich sauer und eingeschnappt (heute "angepisst") und fühlte mich abgelehnt, Ich war traurig, verletzt und enttäuscht, dass nicht ich das Charisma und die Überzeugungskraft eines Häuptlings (Alphatieres) hatte. Aber natürlich hatte es auch etwas Gutes. Begann ich doch zu lernen, auch mit Niederlagen umzugehen und nach dem Fallen wieder aufzustehen und weiter zu machen.

Nur im Gegenwind wachsen deiner Seele auch Flügel.

Allerdings brauchte es doch ein paar Dekaden, bis ich auch be-griff und ver-stand und für mich akzeptiert hatte, dass ich zwar ein durchaus guter, kreativer und manchmal auch mutiger "Indianer" sein kann, aber eben nur in der "zweiten Reihe" wirklich etwas tauge.

Die Wege auf der Landkarte des Lebens sind meist nur rückwärts gut zu lesen.

counter2xhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Evelyne Leesker am 07.04.2018:

Eine schöne Geschichte, fühlte mich ein bisschen an meine eigene Kindheit erinnert. Die Sache mit dem "Kochlöffel" kommt mir irgendwie bekannt vor...:))

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