Veröffentlicht: 19.10.2022. Rubrik: Nachdenkliches
Fritzi
Die autoritäre Erziehung der Jugend, wie sie in der Zeit von Preußens Glanz und Gloria praktiziert wurde, ist heute zum Glück überholt und abzulehnen. Dennoch sind die „preußischen Tugenden“ wie Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, Disziplin, Ehrlichkeit, Sparsamkeit und Zuverlässigkeit nach wie vor wichtige, den Kindern zu vermittelnde Eigenschaften. Ob die seit den siebziger Jahren gehandhabte antiautoritäre Erziehung dabei den richtigen Weg zeigt, ist Grundlage vieler Diskussionen.
Wir leben schon lange Zeit in einem Dorf nahe der Ostsee. Seit einigen Jahren unterliegt es einer stetigen Expansion in Richtung Kleinstadt. Die Gartenanlage beherbergt eine Familie mit drei entzückend lebendigen, aber ebenso unfolgsamen Kindern. Die Eltern beherrschen meisterlich die Fäkalsprache und die Kleinen sind begierig dabei, dieses Wissen für kommende Generationen zu erhalten. Verbale Überlieferungen bezeugen, dass sie auf eine Weise schlau sind, die wir nicht verstehen. In puncto Kindererziehung sind sie auf dem allerneuesten Stand antiautoritärer Erziehung. So führt die Aussage der, über ausreichendes Sitzfleisch verfügenden Mutter „Fritzi, du könntest bitte mal herkommen.“, nach mehrfacher Wiederholung der Nichtbeachtung, zur Umwandlung in die Frage „Fritzi, würdest du bitte mal herkommen?“. In Folge dieses vehement unbeachteten, gebetsmühlenhaft wiederholten Wortlautes, ändert sich die Formulierung in die nett artikulierte, mit nicht zu autoritärem Ausdruck belegten Aufforderung „Fritzi, komm doch bitte her!“. Aber diese, ebenfalls nicht minder zu Gehör gebrachte Petition endet in einem erziehungstechnisch unautoritären Fehlschlag, in dessen Folge andere Seiten in Form des nicht zu autokratischen dennoch ein wenig forscher formulierten Aufrufes „Fritzi, wenn du nicht sofort herkommst!!“, aufgezogen werden. Aber Fritzi ist mitnichten geneigt, dieser dann doch etwas strenger artikulierten Bitte Folge zu leisten und erwartet die nächste Steigerung des vorgetragenen Anliegens. Jetzt werden weitaus schwerere Geschütze aufgefahren, „Fritzi, wenn du nicht kommst, dann gibt es heute keine Schokolade mehr.“. Doch diese, gleichermaßen vehement wiederholte Formulierung eines angedachten Vorganges bringt ebenfalls nicht den erhofften Erfolg. Fritzi schaut in den Spiegel, sieht ihren von besagter Köstlichkeit verschmierten Mund und grinst. Ein Ende dieser Farce wird womöglich erst mit dem Aussprechen der multifunktionalen Drohung in Verbindung mit einer in Aussicht gestellten Bedrohung durch den Einsatz des Vaters „Fritzi, wenn du nicht sofort herkommst, dann sage ich das Vati, es gibt keine Schokolade mehr und du darfst heute auch nicht mehr am Computer spielen!!!“, eingeleitet und damit ist die Wahrscheinlichkeit zunächst gegeben, das ein Schlusspunkt zumindest in Aussicht steht, - oder nicht.
Nur zwei Generationen zuvor, genauer gesagt in meiner Kindheit, hätte dieser Monolog einen anderen Verlauf genommen. Nach von mir unbeachteter Ansage der Mutter „Junge, komm bitte her.“, wäre in Folge des ersten, erfolglosen Verbalisierens dieses Wunsches ein erzürnter Blick in Richtung des Uneinsichtigen geflogen und als unabänderliches Fazit hätte beim zweiten, sagen wir dritten Anlauf der Griff zum Kochlöffel das Problem kurzerhand beendet. Mein Vater dagegen wurde in seiner Jugend um einiges strenger, in preußischem Sinne erzogen, da wurde dieser Prozess nochmals um wenigstens einen Schritt verkürzt. Ein leicht zu übersehendes, knappes, seitliches nicken mit dem Kopf, komplettiert durch einen der Situation angepassten Augenaufschlag, ersetzte damals so manche Diskussion.
Die Folge: Ich liebe meine Eltern über alles, war stets ein folgsamer, netter und hilfsbereiter, die meisten Menschen ehrender, in der Straßenbahn für ältere und bedürftige Personen platzmachender und dafür hoffentlich allseits geliebter Erdenbürger.
Kochlöffel gibt es nicht mehr, die heutige Welt ist halt eine andere.