geschrieben 2020 von Mariele Märzenbecher (Mariele Märzenbecher).
Veröffentlicht: 27.05.2020. Rubrik: Unsortiert
Eine Räuberhochzeit
Eine Räuberhochzeit
Es wird langsam hell, sie öffnet die Augen – wie spät ist es? Oh nein, 4.51 Uhr – und das an einem arbeitsfreien Tag… wie immer denkt sie, sucht ihre Schuhe und macht sich auf den Weg in die Kü-che zur Kaffeemaschine. Erst einmal durch die Palette ihrer Kaffeesorten: Cappuccino, Latte Mac-chiato, Kakao und dann mal sehen, was der Tag so bringt.
Unter der Dusche wird sie richtig wach, sorgfältig trocknet sie sich ab, föhnt sich das Haar, legt ein leichtes Make up auf, ein Hauch Eau de Toilette – hm, sie liebt diesen Duft.
Wo war noch mal diese Höhle? Weit kann sie eigentlich nicht sein; vor langer Zeit war sie mal da als die Kinder noch klein waren.
Beim Schuhe zubinden fühlt sie noch einmal die Taschen ihrer um die Taille gebundenen Jacke: Wohnungsschlüssel und Telefon, mehr braucht sie nicht.
Es ist früh am Morgen, der Tag erwacht, die Luft ist noch kühl trotz der durch die Bäume scheinen-den Sonne. Die Vögel trällern ihr Morgenlied, die ganze Nacht waren sie stumm.
Entlang den Bahngleisen vorbei an mannshohem Gras, dass sich leicht im Wind wiegt, manche großblättrigen Büsche machen den Anschein als winken sie ihr einen freundlichen Guten-Morgen-Gruß zu. Es geht bergab, vorbei an den gemütlichen Häusern in denen die Bewohner noch schla-fen.
Da ist der Kindergarten mit buntbemalten Fensterscheiben, die Schaukel, die Rutsche einsam in der Sonne. Bis hierher kennt sie den Weg nur zu gut, ist doch der Kleine da gewesen vor einer gefühl-ten Ewigkeit. Nun ist er erwachsen und geht seinen eigenen Weg.
Am Ende der Straße schillert der Fluss in der Sonne, Enten schwimmen auf der Suche nach etwas Essbarem.
Da bin ich richtig, denkt sie, unter der Brücke hindurch und in Richtung des Waldes. Alles sieht so friedlich und idyllisch aus. Ihre Schuhe knirschen auf dem Schotterweg, links ein verlassenes Gast-haus. Hier hat die Ex-Schwägerin den Ex-Schwager geheiratet, die Besitzer des Gasthauses gaben irgendwann den Betrieb auf. Das Essen schmeckte scheußlich – lächelnd geht sie weiter Richtung des schattig kühlen Waldes bergauf, in der Sonne ist es schon richtig warm. Der Raps hat seine gel-be Pracht fast verloren – schade, sie mag das Gelb und dazu das frische Grün und den blauen Him-mel.
Ein Mountainbiker überholt sie, im Vorbeifahren grüßt er kurz. Der Weg durch den Wald ist steil und kurvenreich, manchmal bleibt sie stehen, schaut hinunter durch die Bäume ins Tal, der Fluss ist ihr sicherer stetiger Begleiter. Ab und an blickt sie sich um, aber niemand außer ihr scheint um diese Zeit unterwegs zu sein. Ängstlich ist sie eigentlich nicht, im Gegenteil, oft genug ist sie alleine un-terwegs, auch im Wald – dieser hier ist ihr allerdings irgendwie fremd geworden.
Immer weiter führt sie der Waldweg hinauf – irgendwann muss doch das Hinweisschild kommen – hat sie etwas übersehen? Suchend nach den an die Bäume gezeichneten Wegweisern hält sie oben auf einer kleinen Anhöhe nun doch etwas aus der Puste kurz inne. „Respekt, Sie sind schnell. Un-ten auf der Straße habe ich Sie doch erst überholt.“ Die Stimme kommt von rechts, erschrocken blickt sie in die Richtung; der Mountainbiker hat sein Rad abgestellt für eine kurze Rast auf einer Bank. „Bin ich hier noch richtig, ich möchte zur Höhle“ antwortet sie auf sein Kompliment in ihren Ohren und es tut ihr gut, viele bekommt sie ja nicht mehr. „Sie müssen hier entlang“ meint er und zeigt nach rechts auf einen unscheinbaren Pfad. „Fast wären Sie vorbei gelaufen“ sagt er und lacht. „Sehen Sie sich den wundervollen Ausblick von hier oben an, etwas unterhalb links“ meint er noch, dann wünschen sie sich noch einen schönen Tag und sie schlägt die ihr gewiesene Richtung ein.
Der Weg ist zugewachsen und sehr schmal, geht wieder bergab und sie muss nun auch auf Wurzeln und spitzen Steine achtgeben. Etwas weiter unten sieht sie das größere an einen Baum geschlage-ne Schild: Räuberhöhle – 50 m. Gefunden und geschafft denkt sie froh. Räuberhöhle – ja so hieß sie! Ob hier wohl mal Räuber gehaust haben? Der Gedanke bereitet ihr eine winzige Spur von Gän-sehaut auf den Unterarmen, nicht von der morgendlichen Kühle.
Wie ein großes klaffendes und dunkles Loch im Fels liegt der Eingang der wiedergefundenen Höhle vor ihr. Es fällt es ihr schwer, die Stufen zu finden, am Geländer tastend wagt sie sich etwas hinein.
Wie es hier riecht? Nach kaltem Rauch, da hat wohl jemand ein Feuer gemacht. Auf dem Treppen-absatz braucht sie nun ihre Taschenlampe vom Telefon, um die alten und ungleich hohen Stufen sicher zu finden. Unten angelangt, schaltet sie sie wieder aus, denn am Ende der Höhle ist ein gro-ßer Spalt, der das strahlende Sonnenlicht in die Höhle lässt.
Sie kann Wassertropfen hören, die von der Decke auf den sandigen Boden fallen. Langsam gewöh-nen sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse: In der Mitte der Höhle liegen Baumstämme wie Sitz-bänke aufgereiht um eine erloschene Feuerstelle herum. Langsam durchquert sie die Höhle bis an ihr Ende auf den hellen Spalt zu, um den Ausblick zu wagen.
Links steile Felshänge, rechts der bewaldete Abgrund, unten im Tal der Fluss, der sich um eine Bie-gung schlängelt, die daneben führende Straße ebenso, auf der anderen Seite wieder schroffe ho-he Felshänge. Dazwischen Häuser, die von oben wie Puppenhäuser zum Spielen aussehen. Die frische Luft von draußen überdeckt den Höhlengeruch innen und sie atmet tief durch.
Plötzlich fällt ihr gerade ein besonders heller Sonnenstrahl ins Gesicht, geblendet hält sie ihre Hand zum Schutz über ihre Augen.
In dem Moment hört sie es, was ist das? Es klingt wie Musik; lustige und fröhliche Klänge wie die von mittelalterlichen Instrumenten und ja, es singen Menschen dazu. Vorsichtig wendet sie sich um: In der Mitte knistert ein Feuer, darüber ein Gestell auf dem sich ein prall bestückter und brut-zelnder Spieß langsam dreht, auf den Baumstämmen sitzen viele Leute; Männer, Frauen, Kinder in Gewändern, die man vor sehr langer Zeit trug.
Ihre lachenden Gesichter glänzen im Schein des Feuers, sie halten hölzerne Becher in ihren Händen und singen zur den Klängen der Musik. Auf der rechten Seite steht ein Tisch auf krummen Holzbei-nen festlich gedeckt von vielen Schüsseln mit dampfenden und gut riechenden Speisen und bun-tem Obst. Davor spielen ein latzhosiger Junge und ein Mädchen in einem weißen Rock mit einem Holzkreisel.
Neben dem Feuer tanzt ein Paar, ihr Kleid glitzert im Feuerschein, schwingt ihr bodenlang um die Füße und in ihren goldenen, weit über ihre Schultern reichenden Locken prangt ein bunter Blüten-kranz, er trägt keinen zerbeulten Hut so wie die meisten Männer hier, dafür aber eine wie Seide glänzende Weste mit derselben Blütenranke, wie die, die in ihrem Haar steckt. Ineinander einge-hakt tanzen sie zur Musik und schauen sich lächelnd tief in die Augen wie versunken, verliebt, ja verheiratet.
Eine Räuberhochzeit – schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, sie feiern hier eine Räuberhoch-zeit!
Jemand ist zu ihr getreten, hält ihr einen mit einer roten Flüssigkeit vollgefüllten Becher hin, lädt sie ein, mit ihnen am Feuer zu sitzen. „Sei unser Gast, iss und trink mit uns, meine Tochter hält Hoch-zeit heute.“ Sie nimmt seine einladende Hand und lässt sich in die Mitte zum Feuer führen, setzt sich auf einen der Baumstämme und blickt kurz sprachlos in unzählige lachende Augenpaare. „Auf die Braut und den Bräutigam!“ ruft sie nun doch, stößt mit ihrem Becher gegen die der anderen und hat jetzt einen Teller mit duftend heißem Grillgut auf ihrem Schoß. Die Musik spielt lustig auf und wird immer lauter. Von den Gesprächen der anderen bleiben ihr nur Wortfetzen getragen durch die lauten Klänge.
Sie isst und trinkt, lacht den anderen ums Feuer Sitzenden zu und fühlt sich wohl in dieser Gesell-schaft. Wie die von ihr erspähten Erdbeeren drüben auf dem Tisch schmecken werden? Sie will gerade aufstehen, um sich eine Frucht zu holen, da ist sie wieder die einladende Hand, lässt sie nicht los, zieht sie in die Höhe, hakt sich bei ihr ein und sie drehen sich im Kreis auf dem sandigen Boden zur Musik. Jetzt wechselt er die Richtung beim Tanz und schaut sie dabei mit lustigen Augen an, groß ist er und stark mit langem grauem Haar zu einem Zopf geflochten, welcher unter dem Hut zur Musik lustig hin und her wippt. Sie fühlt sich gehalten von einem starken Arm, der sie führt und jetzt linksherum dreht.
Die Luft in der Höhle ist erfüllt vom Duft der gebratenen Köstlichkeiten und der ausgelassenen Stimmung. Sie hebt die Hand, löst sich aus dem starken Arm und findet den Weg zum Tisch. La-chend steckt sie sich eine große rote Erdbeere in den Mund und spürt die Süße der Frucht auf ihrer Zunge.
Es ist schön, hier zu sein, in dieser uralten Räuberhöhle mit den gastfreundlich Hochzeit feiernden Menschen.
Langsam geht sie zu dem Spalt, durch den noch immer die Sonne scheint und wagt einen Blick nach draußen: Immer noch friedlich liegt der Fluss inmitten des Tales, kleine Ruderboote kann sie auf ihm erkennen; jetzt sind die Bewohner ausgeschlafen denkt sie. Auch auf der Straße, die neben dem Fluss entlang führt, kann sie fahrende Autos entdecken.
Kurz wird es dunkler, eine Wolke hat sich vor die Sonne geschoben. Schnell ist sie vorbei und das erneute Erscheinen des Lichtes blendet sie und wieder hält sie die Hand schützend vor ihre Augen.
Ein schöner Tag denkt sie, den Geschmack der Erdbeere noch im Mund, dreht sie sich um.
Nanu, wo sind sie alle? Kein Feuer und kein festlich gedeckter Tisch mehr, die fröhlich feiernde Schar von Menschen – verschwunden, die Musik ist verstummt. In der Höhle hängt der Duft von kaltem Rauch wie von einem Feuer - oder ziehen da gerade die letzten Rauchschwaden ab?
Mariele, hast du geträumt?
Langsam lenkt sie ihre Schritte über den sandigen Boden in Richtung Treppe, dabei sucht sie nach Spuren von den vielen Füßen. Sie sind wohl da, stammen aber nicht von der Hochzeitsgesellschaft, sondern von den vielen Besuchern hier. Doch nur ein Traum, schade eigentlich.
Entschlossen greift sie nach dem Geländer und erklimmt Stufe um Stufe dem Ausgang entgegen. Oben im Sonnenlicht angekommen weht ihr etwas übers Gesicht, es fühlt sich an wie ein zäher Faden eine Spinnwebe – oder wie ein Haar, ein langes blondes Haar?
Lächelnd macht sie sich auf den Heimweg, den kurvigen, breiten und schotterbelegten Waldweg, immer bergab. Schnell kommen die Häuser in ihr Blickfeld, seltsam, bergauf hat es viel länger ge-dauert denkt sie. Auf der Straße angekommen, die letzte Biegung nehmend fährt ein Mountainbi-ker auf sie zu. „Das glaube ich jetzt nicht“ ruft er, „haben Sie den schönen Ausblick oben genossen und die Höhle gefunden?“ Er hält kurz an und lächelt wieder. „Nein“ sagt sie, „aber die Höhle war sehr spannend. Beim nächsten Mal gehen wir gemeinsam und Sie zeigen mir, wie schön die Aus-sicht ist!“
Aufgeschrieben, erlebt und geträumt von Mariele Märzenbecher.