geschrieben 2021 von Joseph Stein (Joseph Stein).
Veröffentlicht: 22.02.2021. Rubrik: Menschliches
Zuhause
Ein schrilles Läuten schreckt Edgar auf. Während er zur Gegensprechanlage eilt, schaut er auf seine Armbanduhr und wundert sich.
"Hallo?"
"Hier ist Herr Wiedemann"
Eindringlich und abgehackt dringt seine Stimme aus der Anlage heraus. Edgar öffnet die Eingangstür.
So sah ich nun also die Wohnung des Herrn Kurz. Trotz des strahlenden Frühlingstages, war sie in dumpfes Zwielicht gehüllt und die Lichtstrahlen kamen nur durch einen kleinen Spalt an den Seiten des schweren Vorhangs entlang. Das Licht reichte nur um die ersten paar Meter des schmalen, wenig einladend aussehenden Flurs zu erspähen und der Rest verlor sich in Unkenntnis. Ich atmete langsam ein und zog dabei eine Melange aus verschiedensten Gerüchen in mich ein. Da war der Geruch nach altem Holz, verbrauchter Luft und einer Süße, die ich nicht recht zuordnen konnte.
Immer noch auf der Fußmatte stehend, begegnete ich dem Blick von Herrn Kurz, der halb verdeckt hinter seiner Eingangstüre stand. Strähnige, dunkelbraune Haare fielen fast schulterlang an seinem schmalen, langgezogenem Gesicht entlang und gingen fast nahtlos über in einen schwarzen Kapuzenpullover, der kaum Aussagen über die Figur von Kurz zuließ und in deutlichem Kontrast zu seiner blassen Haut stand. Ein stoppeliger Bart umrahmte einen schmalen Mund mit fest verschlossenen Lippen und feine Falten wuchsen um die Augen zu tiefen Gräben auf der Stirn zusammen und obwohl die Augen zusammengekniffen waren und die Pupillen geweitet, konnte ich doch eine schmale Korona aus blauen und bernsteinfarbenen Verläufen dort erkennen. In diesen starren Augen, wie sie mir entgegen blickten, sah ich eine Morgensonne, die der Mond zu verdecken suchte, es aber nicht gänzlich schaffte. Ich lächelte ihn leicht an.
"Darf ich?"
Kurz murmelte etwas Unverständliches und trat einen halben Schritt weiter hinter die Tür und machte mir so den Weg frei in den Flur. Ich ging zwei Schritte und drehte mich wieder zu Kurz um. Er schloss die Eingangstüre und öffnete eine fein gearbeitete hohe Holztür zu meiner rechten und ging voran.
Das Zimmer, welches wir nun betraten, war ein großer, heller Raum mit zwei weich gepolsterten Sesseln in der Mitte, wobei der hintere an den Armlehnen etwas abgenutzt aussah. Auf jenen setzte sich Herr Kurz, überschlug seine langen Beine und folgte mir mit seinen Blicken als ich es ihm nach tat. Angenehm eingesunken in den Sessel, nahm ich die Einrichtung in Augenschein. Dort stand ein nach Farben sortiertes Bücherregal gegenüber von mir, mit allerlei Klassikern von Homer bis Dürrematt in größtenteils neu aussehend illustrierten Umschlägen. Ein beeindruckender Fernseher hing daneben an der alpinweißen Wand, umrahmt von zwei Standlautsprechern eines mir unbekannten Herstellers. Die entgegengesetzte Wand war, abgesehen von einem großformatigem Landschaftsportrait, frei und leer. Es zeigte eine einzelne Gruppe entlaubter Bäume, die von dichtem Nebel fast gänzlich verhüllt wurden und hinter ihnen wuchs ein Berghang aus dem Nebel heraus, der sich schroff abhob vom dunklen Hintergrund der anderen fernen Berge. Ich schaute wieder zu Kurz hinüber.
"Sie haben es sich hier wirklich schön eingerichtet."
"Danke."
Ein Lächeln glitzerte kurz über seine Züge.
"Was haben Sie heute gemacht?"
"Nichts."
Und seine Augen zuckten zu dem Fenster, wo eine Tüte Nüsse auf der Fensterbank lag.
"Waren Sie schon draußen? Es ist wirklich angenehm für Anfang April."
"Draußen fühl' ich mich allein. Da bleib' ich lieber hier."
Er stand von seinem Sessel auf und ging hastig zur Tür.
"Wollen Sie einen Tee?"
"Gerne."
"Welchen?"
"Haben Sie einen Kräuter-Tee?"
"Ja."
Eine kurze Pause entstand.
"Welchen wollen Sie?"
"Pfefferminz-Tee?"
"Ich habe 7-Kräuter-Tee."
"Sehr gerne."
Mit einem Nicken, mehr zu sich selbst, ging Herr Kurz aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Nun alleine, inspizierte ich den kleinen Beistelltisch vor mir. Ich fand darauf mehrere Zeitungen verschiedener Verlagshäuser, wobei keine aktuell zu sein schien. Die meisten waren von letztem Jahr und einige sogar noch länger zurück liegend. Auch eine Ausgabe von Kafkas Verwandlung lag unter drei Zeitungen begraben, das Lesezeichen allerdings noch zwischen den ersten Seiten. Wahllos zog ich eine Publikation vom März 2011 aus dem aufgetürmten Stapel, als ein lautes Klirren mich aufschrecken ließ. Ich lief auf den Flur hinaus und erblickte eine halb offenstehende Tür einige Schritte weiter, den Gang hinunter. Die Tür hatte sich im Laufe der Zeit im Rahmen verzogen, sodass sie über den Boden schleifte, als ich sie nun weiter aufzog um hinein zu gehen.
Ich betrat eine kleine Küche mit massiven, weit in den Raum ragenden Einbauschränken, die alle etwas altmodisch anmuteten. Auf der kleinen Arbeitsfläche, neben den Herdplatten, stand eine Schale mit einigen Äpfeln, die alle schon deutliche Druckstellen aufwiesen und anfingen Falten zu schlagen. Ein Teller mit einem Rest butterbestrichenem Brot stand daneben, ein breites, stumpf aussehendes Messer an der Seite liegend. Alles war von goldenem Licht beschienen, ausgehend von einer ausladenden Deckenleuchte, mit herbstlichen Blättern bemaltem Lampenschirm. Und inmitten kniete Kurz über Porzellanscherben gebeugt und betrachtete seinen Daumen, an dem Blutstropfen herunter liefen und in gleichmäßigem Rhythmus auf das graue Laminat fielen.
"Alles gut" sagte Kurz als er mich im Türrahmen wahrnahm.
"Warten Sie, ich hole Ihnen ein Tuch. Wo finde ich das Bad?"
Kurz zögerte und Anspannung stand in seinen Zügen. Widerstrebend zeigte er mit der unverletzten Hand auf die Wand zu seiner Rechten und sprach leise:
"Nebenan."
Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging hinüber. Eine einfach gefertigte Tür in schlichter Optik stand vor mir. Die Kassette fehlte, sodass sie einen Spalt offen stand. Den Raum betretend, tastete ich entlang des Türrahmens nach einem Lichtschalter, aber meine Finger berührten nur kühle Fliesen und raue Fugen. Im spärlichen Schein, der aus dem Flur kam, schaute ich mich um auf der Suche nach einem Tuch oder Verband. Ein großes Brotmesser lag auf dem Boden zu meinen Füßen drapiert. Ein helles Waschbecken hing schief und mit feinen Rissen durchzogen an der Wand des kleinen Raumes. An einer Stange neben dem Waschbecken hing ein vergilbtes Handtuch. Mit drei Schritten das Bad durchquerend, nahm ich die Rolle Toilettenpapier an mich und wandte mich wieder dem Ausgang zu.
Ein Blick in die Küche überraschte mich. Zwar waren die Scherben und die Blutstropfen noch da, aber von Kurz war nichts mehr zu sehen. Einzelne Tropfen führten auf den Flur hinaus, den Gang hinunter in den Teil, der vormals in Dunkelheit gehüllt war, nun allerdings von einem schwachen Glimmen erhellt wurde. Nach Kurz rufend, ging ich auf die offene Tür zu und betrat eine Art von Schlafzimmer. Kurz kniete an einem massiven Holzbett aus dunkel gebeizter Buche. Neben dem Kopfkissen stand ein Plüschotter auf der Matratze, der schon recht zerrupft aussah und seinen Kopf auf unnatürlicher Weise zur Seite gedreht hatte. Und überall lagen unzählige leere, weiße Papierbögen herum.
„Was tun Sie hier, Herr Kurz?“
„Ich dachte ich hätte hier etwas gehört, aber das muss ich mir wohl eingebildet haben.“
„Und was ist hier geschehen?“
„Ich weiß es nicht.“
Er nahm mir mit einem Dank die Rolle aus der Hand und wies auf die Eingangstüre.
„Danke, aber es ist schon spät“
Gemeinsam gingen wir zum Ausgang. Edgar Kurz öffnete mir die Tür, schaute mich dabei jedoch nicht an. Auf der Türschwelle noch einmal umdrehend sagte ich: „Danke, dass ich Sie besuchen durfte, Herr Kurz. Ich würde mich sehr freuen, bald wieder hier herkommen zu dürfen.“
Ich glaubte ein dankbares Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, als er die Tür zuzog. Erst rasch, dann jedoch langsamer, immer langsamer bis sie vollends stehen blieb.
„Hätten Sie vielleicht einen Stift für mich?“
Verwundert zog ich einen Kugelschreiber aus meinem Jackett und reichte ihn durch die verbliebende Öffnung hindurch. Abrupt wurde er mir aus der Hand genommen.
Die Eingangstüre fiel mit einem Schnappen ins Schloss.