geschrieben 2014 von Andreas Mettler (Metti).
Veröffentlicht: 02.04.2014. Rubrik: Fantastisches
Die Splitter
Prolog
Ich war neun Jahre alt, als ich meine Mutter tötete. Die Stimme in meinem Kopf verstummte. Wieder einmal. Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat´s genommen.
1
„Zieh die Socken aus.“
„Darf ich Minzi mit ins Bett nehmen?“
Die Katze schlummerte im Wäschekorb. Schwarzes Tierhaar hatte sich in der nach Weichspüler duftenden Wäsche ausgebreitet. Ich stöhnte: „Die Katze schläft schon. Lass sie in Ruhe.“
Tarons Füße mit den schmutzigen Socken zwinkerten mich schelmisch am Fußende der Bettdecke an.
„Wollen wir noch was lesen?“, grinste Taron.
„Warum nicht?“ Ich packte seine Füße. „Sobald ich deine Socken habe.“
„Das Monster unterm Bett?“
„Au ja“, meinte ich, während ich seine Fußbekleidung in den Wäschekorb beförderte. Die Katze antwortete mit einem leidenschaftslosen Aufschlag ihres Schwanzes.
„Das Monster unterm Bett war das grausamste und widerwärtigste Geschöpf, das sich der Teufel jemals erdacht hatte“, so las ich.
„Sein vernarbter Körper war nur noch an wenigen Stellen mit Fell bedeckt und aus seinem Mund mit den verfaulten Reißzähnen tropfte mit Eiter vermischtes Blut. Doch das Monster gab keinen Laut von sich. Niemand sollte hören, dass die Kreatur schon darauf wartete, dass die Mama das Kinderzimmer verließ und der kleine Taron friedlich in seinem Bettchen schlummerte. Dann würde das Monster den Jungen packen und mitnehmen ins Reich der Dämonen. Und endlich Rache nehmen, an dem Kind, das ihm so viele Schmerzen zugefügt hatte.“
„Ob das Monster wohl schon unter dem Bett wartet?“, fragte Taron.
„Ich höre nichts.“
„Es verhält sich still.“
„Und ist bereit, dich heute Nacht zu holen.“
Taron weitete seine Augen und spielte das verängstigte Kind. „Was sollen wir nur tun?“
„Wir müssen ihm zuvorkommen!“
„Wir brauchen Waffen! Schau in die Schublade, Mama.“
„Oh“, staunte ich. „Das wird ein blutiger Abend.“
Taron streckte seine Hand aus. „Gib mir das Messer. Du nimmst das Pfefferspray.“
Kaum, dass wir bewaffnet waren, hörten wir auch schon das brüllende Grunzen der diabolischen Kreatur. Eine mit schütterem Fell bewachsene Klaue zeigte sich am Fußende des Bettes und griff nach Tarons Füßen. Blitzschnell winkelte der Junge die Füße an und begann zu brüllen: „Verschwinde, du Ungeheuer! Raus aus meinem Zimmer oder ich schlitze dir deine verdammte Kehle auf!“
„Und ich brenne deine Augen aus ihren Höhlen und verspeise sie morgen zum Frühstück!“
Taron grinste: „Das war cool, Mama.“
Das Monster erhob sich zu seiner vollen Größe, die fast bis zur Zimmerdecke reichte, und begann zu schnauben. Sichelförmige Reißzähne ragten aus dem Mund. Das stinkende Blut tropfte auf die Matratze.
„Jetzt kommt es zum Kampf!“, rief Taron nach einem Augenblick des Zögerns etwas irritiert.
Das Messer fest umklammert näherte sich Taron dem Monster und auch ich hielt meinen Daumen am Abzug der Spraydose bereit.
„Die Splitter müssen geladen werden“, flüsterte Taron. Was meinte er? Hatte er noch weitere Waffen unter der Bettdecke?
Unvermittelt senkte das Monster die Schultern und verließ das Kinderzimmer durch die angelehnte Tür. Vorsichtig bewegte ich mich ein paar Schritte auf die Türe zu. Dann spürte ich eine kurze Berührung gefolgt von einem stechenden Schmerz an meinem Rücken.
2
Mamas Geschichten waren anders. Mamas Abenteuer waren wirklich cool. Und sie waren gefährlich. Gespannt, was heute Nacht alles passieren könnte, streckte ich meine Füße mit den schmutzigen Socken aus der Bettdecke.
„Zieh die Socken aus“, meinte sie. Sie wusste, dass ich ihre Aufforderung ignorieren würde.
Die Katze hatte es sich im Wäschekorb bequem gemacht. Mama hatte das noch nicht bemerkt.
„Darf ich Minzi mit ins Bett nehmen?“, fragte ich.
Mama blickte über ihre Schulter und stöhnte leiste auf. „Minzi schläft schon. Lass sie in Ruhe.“ Ich konnte den zusätzlichen Gang zur Waschmaschine vor ihrem inneren Auge praktisch selbst schon sehen. „Außerdem will der Junge doch gar nicht mit der Katze im Bett schlafen“, hörte ich sie denken.
Sie hatte Recht. Viel lieber wollte ich das Monster jagen. „Wollen wir noch was lesen?“, fragte ich sie.
„Warum nicht?“, fragte meine Mutter und packte meine Füße. „Jeden Abend das selbe Spiel mit seinen Socken“, hörte ich ihre Gedanken. Irgend etwas stimmte heute nicht.
„Das Monster unterm Bett war das grausamste und widerwärtigste Geschöpf, das sich der Teufel jemals erdacht hatte“, begann meine Mutter zu lesen. Wir hatten schon oft gegen die Kreatur aus der Hölle gekämpft und wir hatten jedesmal gesiegt. Wenn das Abenteuer zu Ende war, würden ein paar neue Narben den gräßlichen Körper des Monsters zieren. Das war viel besser als alles, was andere Eltern ihren Kindern vor dem Einschlafen so erzählten. Jedenfalls so weit wie ich mich noch an andere Eltern erinnern konnte.
„Ob das Monster wohl schon unter dem Bett wartet?“, fragte ich.
„Ich höre nichts“, antwortete Mama.
„Es verhält sich still.“
„Und wartet darauf, dich heute Nacht zu holen.“ Mama schmunzelte. „Andere Mütter versuchen, ihren Kindern die Fantasien mit dem Monster unter dem Bett auszutreiben. Und ich treibe das auf die Spitze.“, hörte ich ihre Gedanken in meinem Kopf. Das machte mir Angst. Mehr Angst als der Dämon unter meinem Bett.
„Was sollen wir nur tun?“, spielte ich meine Rolle weiter.
„Wir müssen ihm zuvorkommen!“, antwortete Mama. „Der Kleine nimmt das Abenteuer heute richtig ernst. Er wirkt fast schon verängstigt. Das wird bestimmt ein Spaß.“ Ihre Gedanken wurden immer lauter. Ob die Splitter noch funktionierten? Splitter... Was war das?
Der Abend verlief nicht so, wie er sein sollte. „Wir brauchen Waffen! Schau in die Schublade, Mama.“ Gegen wen auch immer ich meine Waffe heute einsetzen müsste.
„Verschwinde, du Ungeheuer. Raus aus meinem Zimmer oder ich schlitze dir deine verdammte Kehle auf.“
„Und ich brenne deine Augen aus ihren Höhlen und verspeise sie morgen zum Frühstück!“ Der Spruch war cool und das sagte ich Mama auch.
„Das wird ein großer Blutfleck auf der Matratze“, dachte sie, während sich das Monster zur vollen Größe am Fußende des Bettes aufrichtete. „Na gut, waschen muss ich sowieso.“
„Die Splitter müssen geladen werden“, flüsterte ich. Mama dachte an Waffen unter meiner Bettdecke. Ihr Bild vom Splitter war recht unklar. Meines wurde immer klarer.
Mama folgte vorsichtig dem Monster, das hinter der Tür verschwunden war. Mir den Rücken zugwandt konnte ich ihren Splitter ertasten. Ich nahm das Messer und stach zu.
Mama lag regungslos am Boden. Ihre Stimme war verstummt. Ihr Splitter in meinen Händen. Da wurde mein eigener Splitter deaktiviert.
3
„Heute werde ich ihn kriegen“, dachte ich. „Ich werde ihm das Gesicht zerkratzen und seine Zähne zerschlagen. Ich werde ihm den Bauch aufreißen und seine Gedärme als Kette um die Schultern tragen. Und dann nehme ich ihn mit in die Hölle. Ja, das werde ich tun. Denn ich bin das Monster.“
Ganz still bleiben. Sie können mich nicht hören. Den richtigen Zeitpunkt abwarten. Dann zuschlagen. Die Wäsche waschen? Sie wissen, dass ich hier bin. Sie holen die Waffen. So viele Narben haben sie mir schon zugefügt. Heute ist der Tag der Rache gekommen. Das Kind hat Angst. Große Angst. Das ist gut. Angst vor mir?
Ich bin so groß und mächtig. Schau Dir meine Reißzähne an. Der Splitter? Diesmal entkommst du mir nicht, mein Kind. Er muss geladen werden. Dein Bett blutet. Ich könnte brüllen vor Freude. Ich kann deine Gedanken hören. Und die deiner Mutter. Den Splitter laden? Wir müssen uns neu splitten. Gefährlich, nicht in dieser Identität. Verstecken, bis auch mich der Splitter deaktiviert.
Da deaktivierte sich mein Splitter.
4
Die Krallen ausfahren und in der frisch gewaschenen Wäsche hakeln. Oh, ich weiß, du magst das nicht. Ich kenne deine Gedanken. Dein Sohn findet es lustig. Mehr Wäsche? Ach, wie weich. Und wie das duftet. Noch einmal umdrehen. Ein bisschen dösen.
Mal ein Auge riskieren, nur ein bisschen öffnen. Das genügt. Ganz alleine? Die Ohren spitzen... Alleine, wer öffnet mir jetzt die leckeren Fleischdosen. Dosen? Dösen. Ach ja, weiter dösen.
Ja, die Splitter. Wir sollten sie laden. In dieser Gestalt? Schwierig... Und unbequem. Hier im Korb ist es bequem. Immer noch allein. Wir müssen uns splitten. Einsamkeit. Für lange Zeit? Nicht so schlimm. Wir sind eins. Noch ein bisschen dösen. Schnurr.
Titelbild: skeeze / pixabay.com (public domain)