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geschrieben von Bernhard Wilhelm Rahe (Bernhard W. Rahe).
Veröffentlicht: 16.07.2024. Rubrik: Nachdenkliches


Das Geldstück

April in einer norddeutschen Stadt. Ein kühler feuchter Spätnachmittag. Die Geschäfte in der Sögestraße sind hell erleuchtet. Eben fängt es wieder zu regnen an – ganz dicke Tropfen.
Die Fußgänger wechseln vom Schlendergang in ein schnelleres Tempo hinein, sie klappen ihren Mantelkragen hoch, kramen den Regenschirm aus den Taschen, freuen sich auf einen ruhigen Feierabend.
An der Straße, in der Einkaufszone, sitzt ein junger magerer Mann im Schneidersitz auf einer Pappe. Er ist bärtig, blass und hungrig. Sein kleiner Mischlingshund kauert dicht neben ihm, kuschelt sich schläfrig an sein Herrchen.
Einige Passanten weichen diesem Mann mit unsicheren Schritten aus, gerade so, als hätte das Schicksal einen unsichtbaren aber grimmigen Farbkreis um ein Malheur gezogen. Manche schauen hinterher, lassen nervös tastend – während des zögerlichen Gehens – ihre Lieblingshand in die Manteltasche gleiten. Sie suchen unauffällig in dem warmen weichen Wohlstandsbeutel nach etwas Kleingeld.
Da ist einer, der gibt das Suchen nach dem Eurostück auf. Diese wohlbehütete Münze scheint fort zu sein. Vielleicht abgegeben an den Automaten in der Tiefgarage, oder dem Enkel in das kleine Händchen gedrückt. Der Kleine lächelte so zauberhaft am Morgen. Vergeben ist der Euro an den Wirt, die Marktfrau oder ging er womöglich doch verloren? Diese Münze, die ohnehin kein Leben retten könnte, die keinen Trinker oder Hungrigen, viel weniger noch einen Obdachlosen oder Schwindler mit seinen lächerlichen listigen Tricks irgendwie voranbringen würde.
Ein Einkaufstüten schleppender Fußgänger wollte noch vor wenigen Minuten seinen Euro in der Hand gespürt haben. Der Mann bleibt nachdenklich stehen, schaut sich irritiert um, blickt zurück nach dem Kerl, der auf dem Fußweg hockt. Der fängt diesen Blick ein und senkt den bleichen Schädel. Er streicht gleichmütig dem unruhigen Hund, der sich auf seine kurzen bebenden Beine stellen will, über das nasse Fell.
„Mach schön Platz da – auf die Pappe rauf – und ruhig!“
Wo ist die Euromünze, etwa im Einkaufswagen geblieben? Dieses verdammte Geldstück für den Stadtstreicher, um das Gewissen des humanen Menschen, der gleich in seinen neuen Sechzigtausendeuro-SUV einsteigen wird, zu besänftigen? Dieser Mann soll in wenigen Minuten den gefräßigen Parkautomaten mit mindestens acht Euro mästen. Wird er das Geldstück, das ihm plötzlich eine gewisse Übellaunigkeit bereitet, dem Mann auf der Straße vorenthalten müssen?
Jenem jungen Burschen, dem aber nicht alle Fußgänger ein Geldstück in den Becher schnippen werden, weil sie ihr Mitgefühl unter Kontrolle haben. Die nicht nachhaltig helfende Münze, die viele wie ein Symbol in ihren Jacken- oder Manteltaschen hüten, gehört nur gelegentlich dem Menschen am Straßenrand.
Der hat seine Kappe auf den schmutzigen nassen Weg gelegt, ordentlich zurechtgezupft, eine kleine graugelbe echte Blume dazu drapiert. Ein klappriger Regenschirm ist das Dach.
An guten Tagen ruht auch ein öliger Haufen Hühnerknochen auf dem Betonstein. Ein halbes Hähnchen vom Hühnerbaron. Schön abgenagt, fein geputzte Knöchelchen, kunstvoll und bedächtig auf einer Serviette aufgeschichtet. Wie die nicht nummerierten Teile eines kleinen Sauriers liegen sie da. Der Hund ist dann sehr beunruhigt, der darf da nicht ran, ist gut erzogen. Er vergisst schließlich das Knochengerüst in seinem von einem gelegentlichem Erschaudern und Zittern durchzogenen Schlaf.
Gleich kommt der Euro. Vielleicht landet er wunderbar klingend und direkt in der Kappe. Oder er geht daneben – scheißegal, wer weiß das schon!
Nichts passiert, jedenfalls noch nicht – dort, wo der Bettler sitzt. Der fällt in einen Schlaf, versinkt in seinen leicht vor- und zurück schwingenden ausgemergelten Körper. Hospitalismus. Theater oder echt, allemal beeindruckend. Er träumt im Halbschlaf von Dingen, die die meisten Leute nicht verstehen würden. Womöglich von einer gigantischen Silbermünze, die im Grunde genommen, bevor sie ihm gehören könnte, schnell wieder zurück in irgendeiner weichen warmen Tasche ihren Platz findet. Immer dann, wenn das Begehren groß ist, entschwindet das Metall.
Der mit den Einkaufstüten hat endlich sein Geldstück gefunden und will es tatsächlich, heute paradoxerweise gegen seine volle Überzeugung, in den Hut werfen. Das geht aber nicht mehr, denn wenige Meter von jenem beklagenswerten Mann entfernt sitzt plötzlich ein anderer hinzugekommener Notleidender. Zwei Almosen an einem Tag übersteigen die Gutmütigkeit. Im allerletzten Moment gleitet, für alle Passanten unsichtbar, eine fast gespendete Euromünze aus manikürten Fingern heraus. Gegen ihre Bestimmung wandert sie zurück in die Tiefe des Stoffes. Geräuschlos sinkt sie träge hinab in den Beutel aufkommender Verunsicherung, magisch angezogen vom Missbehagen ihres Besitzers. Dieses geschieht fern dem Blick des Bettlers und auch dem entblößenden Tageslicht.
Der Mann denkt noch kurz darüber nach, dass er, wenn es in der Stadt nur einen einzigen Obdachlosen gäbe, er diesem jeden Tag ein Kleingeld reichen würde. Das schwört er sich gerade beinhart und ist zufrieden mit seinem Gelöbnis. Aber unter den neuen gegebenen Umständen sieht er sich leider gezwungen, den unsichtbaren, aber nahezu physisch wahrnehmbaren Kreis des Elends nicht zu überschreiten.
Schließlich – denkt er weiterführend – und ist stolz auf seine Erkenntnis, hat jeder Mensch das Recht auf seine Privatsphäre. Diese sollte man dem Gestrandeten, bei allem Mitgefühl, auch nicht streitig machen. Jedes Individuum verdient Respekt.
So ist es nun, dass sich Menschen, hinsichtlich ihrer kleinen Erkenntnisse, Weisheiten und Intelligenzen, irgendwie glücklich schätzen möchten.
Die leisen Irrtümer und Fehler werden mitunter, von ihren Urhebern großzügig und selbstzufrieden betrachtet, übersehen.
So auch der wirklich sehr dünne Riss in der Hosentasche desselben Mannes, der in diesem Moment sogar seine Euromünze unbemerkt verloren hat. Eben noch wanderte ihm der Song, “Millionär“, von den Prinzen, über ein Kabel durch die Gehörgänge.
Die Münze aber passiert unbemerkt das Schlupfloch, rutscht am Hosenbein hinunter, springt diskret vom Schuh, rollt und hüpft geradewegs über den Gehsteig.
Der Obdachlose muss sich nicht anstrengen, um in den Besitz des Geldstücks zu kommen, denn die Münze landet lustig hüpfend und zielsicher in seiner Kappe, während er selbst vor sich hin döst.
So mag das Schicksal den Moment glücklich gestalten. Wer eine Münze nicht geben will, der verschenkt sie zuweilen unbewusst.
Und das in dieser – vermutlich vielen Bremern bekannten – Sögestraße.
Schwein gehabt!

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Gari Helwer am 18.07.2024:

Tja, heutzutage, so scheint es, ist sich jeder selbst der Nächste. Mir gefällt der Schluss der Geschichte - die kleine vorwitzige Münze, die ihren Weg findet! LG

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