geschrieben von Inge Klausner (Inge klausner).
Veröffentlicht: 26.09.2022. Rubrik: Menschliches
Das Gänseblümchen
Inge Klausner
Das Gänseblümchen
Als ich am Morgen die Wohnung verließ, braute sich etwas zusammen. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne und ein starker Wind trieb den Regen vor sich her. Die Menschen suchten Schutz unter Vordächern oder verschwanden in Häusern und Geschäften.
Gleichgültig ging ich die Straße entlang zur S-Bahn-Station. Dicke Tropfen klatschten in mein Gesicht, doch es kümmerte mich nicht.
Ein Gänseblümchen kämpfte zwischen den Pflastersteinen aussichtslos gegen Wind und Regen. Meine Omi fiel mir ein und ich blieb stehen. Behutsam pflückte ich das kleine Ding und steckte es an meine Jacke. Ich lächelte. Meine Oma hatte mir oft ein Gänseblümchen mitgebracht, wenn sie mich im Heim besuchte.
Wie jeden Morgen drängten sich die Menschen in die Bahn und als Leichtgewicht wurde ich hin- und hergeschoben, bis ich, an ein Fenster gedrückt, Halt fand. Nach 4 Stationen leerte sich endlich die Bahn und ich ergatterte einen Sitzplatz neben einer alten Dame. Sie wünschte mir freundlich einen guten Morgen doch zum Antworten kam ich nicht. Ein heftiger Schlag traf mich im Nacken.
„Hey Kleiner, weg da!“ Ich drehte mich in Richtung der Stimme und blickte in zwei finstere Gesichter. Voller Angst sprang ich auf und verzog mich, wie ein geprügelter Hund, in eine Ecke.
Klein machen und den Kopf senken, befahl ich mir, so verlieren sie das Interesse an dir- eine Technik, die ich im Kinderheim gelernt hatte.
„Hey Oma, hast Du Kohle?“ Die beiden Typen, schmissen sich rechts und links neben die alte Dame. Wie Raubtiere, hingen sie über ihrem Opfer und während der eine die Handtasche der alten Frau durchsuchte, boxte der andere sie heftig in die Seite.
Die arme Frau weinte und flehte: „Bitte tun Sie mir nicht weh. Nehmen Sie das Geld, aber bitte tun Sie mir nicht weh!“
Kein Fahrgast unternahm etwas. Sie wichen zurück und blickten in eine andere Richtung. Ich hatte den Kopf so tief gesenkt, dass meine Nase das Gänseblümchen an meinem Revers berührte. Der sanfte Duft der winzigen Blume, stieg in meine Nase und da war Sie wieder, meine Oma. Diese liebe, gütige Frau, die mich im Heim besuchte und tröstete, wenn die anderen Kinder mich wieder einmal als Punchingball benutzten. Die Frau, die mir die Hoffnung gab, dass alles irgendwann einmal besser werden würde.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und blickte hinüber zu der alten Dame. Es war, als säße dort meine Omi und ich fühlte mich, als ließe und ich sie im Stich. Wie tief war ich gesunken? Ich ekelte mich vor mir, gleichzeitig kam die Wut. Du musst etwas tun! Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich aufsprang und schrie: „Lasst meine Omi in Ruhe, geht weg von Ihr!“ Immer wieder schrie ich: „Geht weg von Ihr!“
„Genau, lasst die Frau in Ruhe“, hörte ich es hinter mir. „Macht, dass ihr wegkommt, oder es passiert etwas“. Die Menschen waren näher an mich herangerückt, was den beiden Kerlen gehörig Angst einjagte. Sie sprangen auf, rannten zur Tür und verließen an der nächsten Haltestelle schleunigst die Bahn.
Ein Aufatmen ging durch den Waggon. Viele Menschen klopften mir auf die Schulter. Ich hörte Worte wie Zivilcourage und tapfer.
Die alte Dame fiel mir weinend um den Hals und flüsterte: „Sie sind mein Held.“ Mir wurde heiß und ich bekam keine Luft. Noch nie in meinem Leben, hatte mich jemand tapfer oder Held genannt.
„Ist doch nicht der Rede wert“, spielte ich es herunter. „Das habe ich gerne getan.“ Dann verließ ich den Zug.
„Sie sind mein Held“, klang es noch in meinen Ohren. Ein Held, ein Held. Der kalte Regen kühlte mein Gesicht, mein Innerstes beruhigte sich und ich konnte wieder klar denken. Ich hob den Kopf und dachte, verdammt, Du bist ein Held!
Etwa 50 Meter vor mir lag die Lagerhalle, mein Arbeitsplatz seit ungefähr 10 Jahren und mein tägliches Martyrium.
Meine Kollegen standen vor der Lagerhalle, unter einer kleinen Lampe. Eigentlich war es nur eine schwache Glühbirne, die an einem Mast vor dem Eingang befestigt war. Jeden Morgen standen sie dort und warteten auf mich. „Da kommt ja unser Weichei“, hörte ich einen Arbeitskollegen rufen. Meine Schritte wurden schneller- wie von selbst. Große, ausladende, feste Schritte. Mein Rücken streckte sich und ich blickte nach vorne. Heute nicht, beschloss ich, heute werden sie dich nicht demütigen. Heute wirst du nicht mit gesenktem Kopf alles über dich ergehen lassen.
Dann stand ich vor ihnen. Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Sanft streichelte der Wind meine Wangen. Wie schön dieser Morgen doch ist, dachte ich.
„Hey, was ist denn mit Dir los“, raunzte mich Paul an.
„Sind Dir über Nacht Eier gewachsen, oder was?“
Ich war der beste Arbeiter von allen, wenn ich wollte, konnte ich Vorarbeiter sein.
Ich blickte Paul direkt in die Augen. „Und was für welche!“ Dann ließ ich ihn mit offenem Mund stehen.
In diesem Moment wusste ich, dass dies der erste Tag meines neuen Lebens war. Dieser Tag hatte alles verändert.
„Ich werde Vorarbeiter, Omi“, sagte ich zu dem Gänseblümchen an meiner Jacke.