Veröffentlicht: 18.01.2024. Rubrik: Unsortiert
Wahrheit und Wahnsinn
In dem Haus auf dem Berg lebt eine alte Frau. Jeder im Dorf weiß das, aber beweisen kann es keiner. Keine Menschenseele hat sie gesehen, seit Jahren ist ihr niemand mehr begegnet, niemand weiß, wie sie aussieht, wer sie ist. Unzählige Legenden ranken sich um sie und ihr Haus, ihr Inhalt reicht von Misantropinnen über unmenschliche Verbrechen bis hin zu abenteuerlichen Geistergeschichten. Unten im Dorf, am Fuße des Berges verbreiten die gleichen Marktschreier jeden Tag immer neue Gerüchte, schustern der Dame die wildesten Eigenschaften zu. Heute heißt es, das Haus wäre einst ein altes Irrenheim gewesen, dessen Personal vor der Grausamkeit der letzten Bewohnerin geflohen war. So überstürzt hatten sie das Gelände verlassen, dass sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, die Pforten zu verriegeln. Aus diesen offenen Pforten liefe die alte Dame nun bei jedem halben Mond heraus, so heißt es, und fängt Mäuse, Dachse und auch Menschen ein. Was auch immer aus dem Umkreis ihres Hauses fliehen will, sollte sich lieber aus dem Staub machen, bevor die Nacht anbricht, denn sie mache für nichts und niemanden eine Ausnahme. Mit tiefer Stimme und gruseligen Betonungen, ungewohnt leise verkündet der Marktschreier, sie fänge alle Wesen, mache sich aus ihren Körpern einen Eintopf, der sie bis zum nächsten Halbmond nährt, während sie die Seelen zu ihren Bediensteten mache.
Das umstehende Publikum lauscht angespannt, untereinander werden sich dramatische Blicke zugeworfen. Die Kinder, deren Ohren nicht von besorgten Müttern zugehalten werden, verstecken sich bang hinter ihren Vätern. Ein freches Mädchen jedoch schreitet auf das hölzerne Podium, von dem aus der Marktschreier sein Publikum unterhält, und fragt ihn keck, woher der Onkel das denn wissen wolle. Der Gefragte wendet sich ihr zu, wirft ihr einen bedeutungsschweren Blick zu und antwortet nach einer Pause, er habe die Alte selbst gehört.
Die Zuhörenden geben sich mit der Erklärung zufrieden, gehen bald wieder ihren Alltagsgeschäften nach und vergessen die Geschichte. Nicht, weil sie nicht eindrucksvoll erzählt und mit hübschen wie grausamen Details ausgeschmückt war, sondern damit sie in der nächsten Woche einer neuen Geschichte Glauben schenken und sich erneut vor der alten Dame und ihren Untaten grausen können. Alles ging seinen gewohnten Lauf, die Dorfleute machten wie immer ihre Besorgungen und bald war die alte Dame wieder bloß ein schauderliches Schreckgespenst ohne große Geschichte.
Später ist der Marktplatz wieder ruhig, verlassen steht das Podium in der Mitte, die Glocken des nahen Kirchturms läuten die Abendstunden ein. Am Rande des Platzes sitzen zwei Frauen und ein grauhaariger Mann auf einer Bank und unterhalten sich über das Leben. Alte Zeiten werden beschwatzt, Freunde der Verwandten, Krankheiten von Bekannten und Kriege vergangener Zeiten. Endlich kommt das Gespräch auf das Haus, das wachend und mahnend zugleich auf dem Berg thront. "Und was denken Sie?", wendet sich eine der beiden an den Herrn. Dieser lehnt sich zufrieden zurück, kratzt sich am Kinn und holt nachdenklich Luft. "Ich denke", antwortet er schließlich, "das meine Frau uns einen weiteren ruhigen Monat ohne lästigen Besuch und ein gemütliches Zuhause beschert hat."