Veröffentlicht: 10.06.2019. Rubrik: Historisches
Am verbotenen See
Es war uns natürlich verboten, allein an den See zu gehen, als wir noch Kinder waren. Das muss so in den 50er Jahren gewesen sein. Und natürlich hielt uns dieses Verbot nicht davon ab. Jeden Mittag nach der Schule rannten wir zum See, zogen Schuhe und Strümpfe aus und wateten im seichten Wasser, aber keiner traute sich weit vom Ufer weg. Unsere Eltern hatten uns gewarnt: „Der See ist anfangs ganz flach, doch auf einmal wird er furchtbar tief und ihr könnt ertrinken!"
„Wir können doch schwimmen", hatte mein Bruder achselzuckend gesagt und sich für diese Antwort umgehend eine schallende Ohrfeige von unserem Vater eingehandelt.
„Es ist verboten, an den See zu gehen", musste er außerdem hundertmal aufschreiben. Was für ihn eine schlimmere Strafe war als die Ohrfeige. Ich lachte ihn nur aus. Selbst schuld, warum musste er seine Klappe auch so weit aufreißen? Die Eltern mussten doch gar nichts von unseren Ausflügen zum See wissen. Es war ja sowieso nie lange: höchstens 10 Minuten nach der Schule, damit es unseren Eltern nicht auffiel. Wir glaubten, sie ahnten nichts.
Einmal fielen die letzten zwei Stunden aus und selbstverständlich wussten Fritz und ich sofort, was wir mit der freien Zeit anfangen würden. „Auf zum See!" flüsterte mein Bruder mir zu und ich nickte. Vor ein Uhr mittags war unsere Mutter sowieso nie zu Hause; sie arbeitete vormittags in einem Lebensmittelgeschäft. Und unser Vater kam sowieso erst abends nach Hause. Fritz und ich rannten johlend zum See. Im Nu waren Schuhe und Strümpfe ausgezogen und wir mit den Füßen im Wasser. Doch dann stockte mir der Atem: Fritz zog sich bis auf die Unterhose aus.
„Fritz, was soll das?"
Er lachte. „Dreimal darfst du raten, Schwesterlein, ich werde jetzt mal endlich richtig weit hinausschwimmen."
Ich war entsetzt. „Lass das! Der See wird tief! Das ist gefährlich! Und Vater hat's verboten!"
„Blablabla", sagte Fritz, „ich kann schwimmen und du übrigens auch. Aber du traust dich ja nicht, du Feigling!" Er warf sich ins Wasser und kraulte mit kräftigen Stößen davon. Ich sah ihm sprachlos hinterher und schickte mich dann an, mein Kleid über den Kopf zu ziehen, um es ihm gleich zu tun und ebenfalls, nur mit der Unterhose bekleidet, hinterher zu kraulen.
„Lass das lieber sein", sagte auf einmal eine helle Stimme hinter mir. Ich fuhr herum. Ein kleines Mädchen mit dunklen Zöpfen und in einem hellblauen Kleid stand dort unter einem Baum. Ich hatte es nicht kommen sehen.
„Wo kommst du denn auf einmal her?" fragte ich verwundert.
Das Mädchen antwortete nicht. Ich betrachtete es näher. Ich hatte es noch nie gesehen und das war seltsam, denn hier in den kleinen Dörfern kannte jeder jeden.
„Wie heißt du?" probierte ich es noch einmal.
Statt einer Antwort wies das Mädchen mit der Hand auf den See und dann in den Himmel.
„Auch gut, wenn du nicht antworten willst," sagte ich, wandte mich wieder dem See zu und erschrak, denn Fritz war nicht mehr zu sehen.
"Fritz! Fritz!" brüllte ich aus Leibeskräften und rannte ein Stück am See entlang. Doch er war nicht zu sehen und es kam auch keine Antwort. Ich rannte in die andere Richtung und rief nach ihm. Auch hier war er nicht zu sehen und nicht zu hören. Schließlich brach ich weinend am Ufer zusammen. Ob Fritz ertrunken war? Auf einmal war ein leises Lachen zu hören. Ich drehte mich und sah, wie Fritz hinter einem Baum hervortrat - klatschnass in seiner Unterhose, doch ansonsten kreuzfidel. Und er lachte mich aus! Ich lief auf ihn zu und schlug nach ihm.
„Du Scheusal! Ich dachte, du seist ertrunken!"
Er wehrte mich ab. „Bin ich nicht", grinste er.
„Das sag ich Vater! " brüllte ich, ich außer mir vor Wut, doch Fritz lachte nur weiter. Kein Wunder: es wäre schön dumm gewesen, ihn zu verpfeifen, denn dann hätte ich ja zugeben müssen, ebenso wie er am See gewesen zu sein. Er ließ mich toben und schreien, bis ich mich beruhigt hatte. „So, jetzt gehen wir nach Hause", befahl er dann und zog seine Klamotten wieder an.
Ich erinnerte mich auf einmal an etwas. „Vorhin war hier ein kleines Mädchen", sagte ich und sah mich suchend um. Das Mädchen war nicht mehr zu sehen.
„Hier war niemand", sagte Fritz. Für ihn war das Thema damit erledigt.
Wir schafften es, nach Hause zu kommen und Fritz sogar, sich umzuziehen, ehe Mutter nach Hause kam. Ich ärgerte mich, weil ich nichts erzählen konnte und er so natürlich keine Strafe bekam, doch andererseits war ich heilfroh, dass ihm nichts passiert war. Doch ich ging nie mehr mit ihm an den See.
Später suchte ich den See ab und zu alleine auf, in der Hoffnung, das Mädchen im blauen Kleid noch einmal zu treffen. Doch ich sah es nie wieder. Außer mir hatte es auch nie jemand gesehen.
Und manchmal denke ich noch heute, es muss wohl ein Geist gewesen sein.