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5xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Karin Cimander (Karin).
Veröffentlicht: 25.02.2025. Rubrik: Menschliches


Sie sind neu, oder?

Das große Schlüsselbund in meiner Hand klap-pert, als ich bei Frau Weidner klingele. Frau Weidner ist dement, und ich bin heute das erste Mal bei ihr. Bisher hat meine Kollegin Kathi die Pflegebesuche bei der Patientin übernommen. Es dauert eine ganze Weile, bis der Türöffner summt. Frau Weidner schaut mich skeptisch an, als ich die Wohnungstür erreiche, sie freundlich be-grüße und mich vorstelle.
„Sie sind neu, oder?“, fragt sie unfreundlich und abwehrend. Ich bejahe es und antworte ruhig und einfühlsam:
„Ja, die Kathi, die Sie sonst immer besucht, hat Urlaub.“
Ich spüre das innere Aufgewühltsein der Frau. Ihr Blick schweift unruhig hin und her.
Neue Situationen scheinen sie zu überfordern und Angst zu machen. Nur widerstrebend lässt sie mich die Wohnung betreten. Laut tut sie ihren Unmut über die Situation kund, während ich ruhig, leise und einfühlsam mit ihr spreche und versuche, eine Verbindung zu ihr herzustellen. Langsam beruhigt sie sich, entspannt sich, als ich mir zum Schluss noch ein wenig Zeit nehme und mich zu ihr setze.
„Sie sind aber wirklich nett!“, sagt sie, als ich etwas später aufstehe, um zu gehen. „Wie heißen Sie denn? Ich schreibe mir Ihren Namen auf, damit ich ihn nicht vergesse“, endet sie freundlich lächelnd.
Eine Woche später bin ich wieder bei Frau Weidner. Heute soll geduscht werden. Wieder empfängt sie mich skeptisch mit den Worten:
„Sie sind neu, oder?“
Wieder scheint sie mein Erscheinen zu überfordern, vor allem, als ich äußere, dass ich sie heute beim Duschen unterstützen möchte.
„Nein, das möchte ich nicht! Meine Tochter kommt nachmittags und hilft mir dabei!“, wehrt sie mich bestimmt ab. Ich bleibe ruhig und freundlich. Langsam beruhigt sie sich. Wir setzen uns gemeinsam hin und plaudern. Als ich aufstehe, um zu gehen, sagt sie lächelnd:
„Sie sind richtig freundlich! Wie heißen Sie denn? Ich schreibe mir Ihren Namen auf, damit ich ihn nicht vergesse.“
Bei meinem nächsten Besuch werde ich wieder skeptisch, mit den Worten:
„Sie sind neu, oder?“, empfangen. Sie ist auf-gebracht, weil sie Schmerzen hat und nicht an die gesicherten Medikamente kommt. Wieder scheint sie die Situation zu überfordern.
Ich gehe behutsam auf sie ein, verabreiche ihr das Medikament und nehme mir wieder Zeit für sie und ihre Anliegen. Sie bittet mich, im Sessel Platz zu nehmen. Mein Blick fällt kurz auf den Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Frau Weidner bemerkt meinen Blick. Kurz dreht sie sich zum Schrank um. Ihr Gesicht bekommt plötzlich ein seliges Lächeln und ihre Au-gen strahlen.
„Wissen Sie", beginnt sie, „ich habe mal Bauernmalerei gelernt. Diesen Schrank wollten meine Nachbarn damals zerhacken und wegwerfen. Ich habe gefragt, ob sie ihn mir schenken. Dann habe ich ihn restauriert. Wissen Sie, bei Bauernmalerei fängt man immer mit einem Blumenmotiv an und gestaltet dann alles andere drumherum.“
Mit einem glücklichen, in die Ferne gerichteten Blick, berichtet sie mir von damals. Sie ist in ihrer Welt, einer Welt, die sie nicht vergessen hat. Eine Welt voll Vertrautheit, Frieden und Harmonie. Eine Welt mit lieben Menschen, voll Glück und Lebensfreude.
Sie nimmt mich mit in diese Welt, lässt mich teilhaben an diesem wundervollen Ort. Ruhe und Frieden breiten sich in ihr aus. Irgendwie wirkt sie plötzlich jünger. Ich kann die junge Frau spüren, der ihre Kreativität unendlich viel Freude bereitet. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie und ihr begeistertes, von Liebe geprägtes Tun.
Ich betrachte den Schrank nun genauer und kann plötzlich all die wundervollen Einzelheiten wahrnehmen. Jedes Ornament ist anders, einzigartig und doch ist alles ein Gesamtwerk voller Harmonie und Gleichklang.
Der Schrank ist eine echte Antiquität!
Als ich mich, berührt und beschenkt fühlend, verabschiede, um zu gehen, sagt sie freundlich:
„Hach, Sie sind richtig, richtig nett! Sagen Sie mir bitte noch Ihren Namen? Ich schreibe ihn mir auf, damit ich ihn nicht vergesse.“

+++
Eine Episode des Buches "Herzens-Begegnungen im Alltag"

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Rautus Norvegicus am 25.02.2025:

Es liest sich so nett, ist aber für Betroffene, auf der einen oder anderen Seite, im Laufe der Zeit, eine hohe Belastung.

Ich glaube, es ist ein gutes Ventil, darüber zu Schreiben und so zu verarbeiten.

Liebe Grüße

Rautus Norvegicus

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