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geschrieben 2024 von Olga (omorlova).
Veröffentlicht: 15.01.2025. Rubrik: Menschliches


März

Ich hasse Anfang Frühling. Diese Jahreszeit ist immer unangenehm, besonders in Russland. Die Natur ist noch nicht ganz wach. Die Leute sind auch schläfrig, wenn sie morgens zur Arbeit gehen. Im März liegt Schnee immer noch überall, aber er ist ganz nicht weiß. Dieser Brei aus Schnee und Dreck matscht unter den Schuhen. Wenn es wieder kalt wird, werden die Straßen wie eine Eisbahn. Alles ist so, als würde die Natur selbst ersticken. März heißt einfach: Augen schließen und irgendwie überleben.

Früher habe ich gelesen, dass alle Krankheiten im Frühling besonders aktiv werden. Deswegen steigen auch Todeszahlen drastisch. Diese trockene Statistik kennt jeder. Doch empfindet man sie unpersönlich, wenn sie seine Familie nicht betrifft. März: einfach überleben.

2008. Das Jahr hat wie immer angefangen. Eigentlich hatte meine Familie immer eine Parade von Geburtstagen im Januar: 11., 12., 14. und schließlich 15. Januar. 13. war eine kleine Pause zwischen diesen Feierlichkeiten. 2008 wurde mein Stiefvater 40, er war nur 4 Tage älter als meine Mutter. Deswegen gab es ziemlich viele Witze darüber. Er hatte einen Humor, der jede Situation aufhellte – bis auf sich selbst. Meine Mutter hat viel mit ihm gelacht, wie mit niemandem später. Er wusste auch immer, was sie sich wünscht, auch wenn sie das nicht direkt gesagt hatte.

Diesmal fügte er unter diesen witzigen Worten über das Alter einen Satz hinzu, an den ich mich immer noch erinnere: „Soll ich den Rest meines Lebens in vollen Zügen genießen oder mich begrenzen und mich um meine Gesundheit ernst kümmern?“. Viele Leute wählen die erste Option. Er hat auch diese Wahl gemacht. Ich fragte mich damals warum und dachte oft, dass er vielleicht schwach war und sich nicht zusammenreißen konnte. Viel später habe ich mehr über Zusammenhänge in Familien verstanden. Leider viel später.

März 2008 bleibt für immer in meinem Kopf. Obwohl die Ereignisse, die ich jetzt beschreibe, ein bisschen früher passiert sind. Damals im Januar wussten wir nicht, dass mein Stiefvater oft Kopfschmerzen hatte. Er hat sich nie beschwert. Starke Männer dürfen sich nie beschweren, bis das gar nicht geht. So ist diese toxische Erziehung, die viele von uns bekommen. Du bist ein Mann, du musst keine Schwäche zeigen. Er hat sie bis Februar nicht gezeigt. Zum ersten Mal musste er zugeben, dass er eine Schmerztablette braucht. Nichts besonderes würde man denken. Aber das hat bedeutet, dass diese Schmerzen echt stark waren.

Warum hat er geschwiegen? Seine Mutter war eine strenge Frau. Ich glaube, allein dieser Satz kann alles darüber sagen. Sie entschied, dass er Musik machen sollte, obwohl er davon träumte, Sport zu treiben. Für sie war das ein Zeichen von Disziplin, für ihn jedoch verlorene Stunden, die er lieber mit Bewegung und Freiheit verbracht hätte.

In einem strengen Umfeld lernt man schnell, seine Gefühle und Probleme nicht auszusprechen. Dann wird es zu spät. Er hat nie gezeigt, wie schwer das Leben war. Vielleicht wollte er uns schützen. Vielleicht hat er nie gelernt, wie man Hilfe bittet. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte gefragt. Aber was könnte ein Teenager machen?

Ende Februar hatten wir einen normalen Morgen beim Frühstück. Ich kann mich jetzt nicht mehr daran erinnern, was auf dem Tisch war. Irgendwelche Morningshow lief im Fernsehen. Mein Stiefvater ging plötzlich ins Badezimmer. Nach 20 Minuten haben wir uns schon Sorgen gemacht, er war zu lange dort. Der Rest ist wie im Film. Wir hörten Donnern. Er ist im Badezimmer hingefallen. Er fiel, wie ein Baum im Sturm. Wir sind dorthin gelaufen und haben ihn auf dem Boden gesehen. Seine Rede war schon undeutlich und er sagte was flirtendes zu meiner Mutter, obwohl seine linke Seite schon nicht mehr funktioniert hat. Ich sah, wie meine Mutter seine Hand hielt, während seine Worte nur noch ein Flüstern waren. Diese letzten Worte waren für meine Mutter. Ich glaube, sie erinnert sich immer noch an sie. Wir haben das nie besprochen. Er hatte einen Hirnschlag. So haben wir ihn zum letzten Mal am Leben gesehen. Es war sein letzter Moment. In diesem Moment war es auch klar, dass er nie zurückkehrt. Trotz aller Gebete.

Ich hasse Anfang Frühling, besonders im März 2008. Er war schon eine Woche in der Intensivstation. Ein Anruf vom Arzt. Du wusstest schon, was du jetzt hörst. Er war tot. Der einzige Gedanke in meinem Kopf war, dass ich ihn nie Vater genannt habe. Dieses Wort hing für immer in der Luft. Es war zu spät.

Frühling sollte Hoffnung bringen, doch für mich bringt er nur den Geschmack von Verlust. Schnee, der schmilzt, erinnert mich daran, wie alles Vergängliche verschwindet – selbst Menschen. Damals wusste ich noch nicht, dass es sich wiederholt.

Der März wurde zu einer Art Vorhersage – einer Zeit, in der ich Angst habe, einen weiteren Anruf zu bekommen. Der Tod meines Stiefvaters war der erste, aber nicht der letzte Verlust. Seitdem bringt der März oft Abschiede mit sich, als wollte die Natur selbst ihre Macht beweisen, indem sie mir die Nächsten nimmt.

Es ist nicht mehr nur eine Jahreszeit. Es ist eine unausweichliche Realität. Die Wunden, die der März hinterlässt, heilen nie. Sie bohren sich nur tiefer in die Seele. Jedes Mal denke ich, dass ich mich daran gewöhnen könnte, doch der Frühling bringt immer wieder den Schmerz zurück – als wäre das seine einzige Bestimmung. Ich hasse Anfang Frühling.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Metti am 16.01.2025:

Der Merz kommt dieses Jahr schon im Februar. (Ich weiß, ein billiges Wortspiel)

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