Veröffentlicht: 31.07.2024. Rubrik: Unsortiert
Jörg
Auch in diesem Jahr verbrachten wir die Sommerferien zu Hause, da wie immer das Geld nicht reichte um eine Urlaubsreise zu finanzieren. Mir machte es nichts aus, ich vermisste nichts, da ich es ja auch nicht anders kannte. Meine kleine Schwester und ich durften in der Regel für einen Tag an einem Ausflug der Kirche teilnehmen, dass nannte sich dann „Fahrt ins Blaue“ oder „Grüne“ oder welche Farbe gerade aktuell war. Blau war meist ein Stausee und grün irgendein Wald irgendwo unweit unserer Heimat. Uns Kindern war es egal. Grün oder blau, Hauptsache wir machten einen Ausflug.
Doch in diesem Jahr verpassten es meine Eltern, uns frühzeitig anzumelden und so waren bald alle Plätze belegt. Sie hatten geplant, während unserer Abwesenheit unsere Tante in Salzgitter übers Wochenende zu besuchen. Um nun nicht absagen zu müssen, wurde kurzfristig umgeplant und wir durften mit! Ich freute mich sehr, mochte ich doch meine Tante, auch wenn sie etwas komisch sprach. Meine Mutter hatte mir mal erklärt, dass läge daran, dass man ihr als Kind die Polypen entfernt hatte. Ich kannte den Begriff „Polypen“ nur als Umschreibung für einen Polizisten und verstand nicht, warum man ihr diesen entfernen musste! Mein Onkel war natürlich auch sehr nett, aber am meisten freute ich mich auf meinen Cousin! Er war 6 Jahre älter als ich und mit 15 hatte er all die coolen Dinge, von denen ich nur träumte. Er durfte sogar schon Mofa fahren, eine Herkules Prima 3 mit 2 Gangschaltung! Dies erfuhr ich aber erst als wir eintrafen und es machte ihn für mich noch mehr zu einem „großen Bruder“, zu dem ich aufsah und wie er sein wollte.
Direkt nach unserer Ankunft ging ich los, um die Gegend zu erkunden. An einem See in der Nähe sah ich zwei Jungen etwa meines Alters einen Frisbee werfen. Dieser verfehlte sein Ziel und landete nicht weit von mir entfernt. Ich hob den Frisbee auf und warf ihn einem der Jungen entgegen. Offensichtlich war ich im Werfen eines Frisbees nicht ganz unbegabt, der hinteren Junge, der sich später als Jörg vorstellte schnappte ihn und nickte mir anerkennend zu. Ohne weitere ausufernde Gespräche, wie dass bei Kinder nun mal so ist, war ich anerkannt und wir warfen uns weitere Frisbees zu. Irgendwann sagte Martin, der andere Junge, er müsse nun nach Hause zum Abendessen. Wir verabredeten, uns am nächsten Nachmittag wieder an der gleichen Stelle zu treffen und gingen in verschiedenen Richtungen nach Hause.
Am nächsten Nachmittag trafen wir uns wie besprochen wieder. Martin schlug vor, ob wir nicht mal hinter das Stadion des Salzgitter Sees gehen wollen um uns die Baustelle anzusehen. Das Betreten war natürlich verboten und das machte ja den eigentlichen Reiz aus.
Ich wollte eigentlich nicht und drukste herum. Lieber hätte ich ein paar Frisbee geworfen. Ich ließ mich dann aber doch von ihnen übereden und zu dritt machten wir uns auf den Weg Richtung Salzgittersee. Hinter dem See war alles mit Zäunen und Gitternetzen abgeriegelt, so dass man ohne Werkzeug nicht hinein konnte. Martin zog eine Zange aus seiner Tasche und begann, die Metalldrähte zu durchtrennen. Nach gefühlten 30 Minuten hatte er einen Durchgang geschaffen, der breit genug war, so dass wir uns hindurch hangeln konnten.
Vor uns sahen wir nun ein großes Feld, frisch gefüllt mit Beton oder einer ähnlichen Masse, wir hatten ja keine Ahnung was es war. Inmitten dieser Fläche klebte ein Luftballon scheinbar am Boden fest! „Seht mal, da liegt ein Luftballon am Boden und da hängt auch noch eine Karte dran!“ Jörg war ganz begeistert und stürmte los um den Ballon zu holen.
Am Anfang trug ihn der Boden noch. Doch nach und nach versank er immer tiefer mit den Schuhen in die frisch betonierten Untergrund, bis er irgendwann die Füße gar nicht mehr heben konnte! Er stand da inmitten der frisch betonierten Fläche und Panik begann in ihm aufzukommen. Jeder Versuch, sich zu befreien schlug fehl! Er konnte die Füße nicht heben und auch die Schuhe nicht ausziehen um Barfuss zurück zu kehren. Er saß fest und wir standen am Rand und wussten nicht was wir tun sollten! „Du musst aufhören zu strampeln!“, rief Martin ihm zu, der eine ähnliche Szene mal in einem Abenteuerfilm gesehen hatte, wo ein Mann in einem Sumpf versank. Aber Jörg konnte gar nicht strampeln, er konnte seine Beine überhaupt nicht mehr bewegen! Jörg begann zu weinen. Ein jämmerliches „Hilfe!“, war zu hören, gefolgt von Schluchzern und Tränen.
Martin sah mich an: „Was machen wir denn jetzt?“ Auch in seiner Stimme war zu hören, dass auch er kurz davor war zu weinen. „Ok, du bleibst hier bei Jörg und ich hole Hilfe!“. Ohne eine Antwort abzuwarten lief Martin los und ließ mich mit dem schluchzendem Jörg allein.
Langsam wurde es dunkel und auch für diese Jahreszeit ziemlich kühl. Jörg hatte mittlerweile aufgehört zu jammern und beantwortete auch nicht mehr meine Fragen, ob alles gut sei und wie es ihm gehe. Von Martin und den Rettern fehlte noch immer jede Spur. Auf Grund der nächtlichen Kälte begann auch ich langsam zu frieren. Ich rief erneut rüber zu Jörg ob alles ok sei, aber nach wie vor keine Antwort.
Was sollte ich denn jetzt tun? Mir war kalt. Sollte ich weiter hier warten bis jemand zu Hilfe kommt? Ich wäre gerne nach Hause gelaufen in der Hoffnung, irgendjemand würde Jörg schon helfen. Ich konnte aber nicht einfach gehen und Jörg alleine lassen!
Langsam wurde es dunkel und die gesamte Gegend verschwand im Nichts. Jörg gab auch auf Zurufen keine Antwort. War er noch da? War er noch am Leben oder schon Tod? Ich hatte Angst, hier allein in der Dunkelheit in einer Gegend, die ich nicht kannte. Ich war hin- und hergerissen aber meine Angst siegte und ich begann zu laufen. Ich wußte nicht genau in welche Richtung, also lief ich einfach drauflos. Irgendwann stand ich vor dem Bauzaun und lief diesen entlang in der Hoffnung, unseren Durchschlupf zu finden. Den fand ich nicht, dafür ein Loch im Zaun, verursacht durch wen auch immer. Ich kletterte hindurch und lief in Richtung der Lichter, in der Hoffnung, dass dies der Weg nach Hause sein musste.
Während ich lief hielt plötzlich ein Taxi neben mir. Der Fahrer ließ das Beifahrerfenster herunter und fragte, wohin ich denn so spät am Tage noch wolle. Es sei schließlich schon dunkel und kleine Jungen gehören nach Hause. Ich sagte ihm, ich hätte mich verlaufen und wolle nach Hause zu meiner Tante. Wie denn diese Tante hieße, wollte er wissen. Natürlich konnte er mit dem von mir genannten Namen nichts anfangen und bot mir an, mich zur Polizeistation zu bringen, wo man mir dann weiterhelfen würde.
Da ich müde und völlig unterkühlt war, öffnete ich die Tür und ließ mich auf dem Rücksitz des Taxis fallen. Wir fuhren dahin und ich hatte absolut keine Ahnung wo wir waren. Wir hätten auch genauso gut irgendwo auf dem Mars sein können! An einer Ampel sah ich müde aus dem Fenster und erblickte ein mir bekanntes Objekt. „Halt! Halt!“, schrie ich. „Ich kenne dieses Haus!“. „Da hinten wohnt meine Tante!“. Der Taxifahrer fuhr in die von mir gezeigte Richtung, stoppte an dem Haus und ging mit mir zur Eingangstür. Ich klingelte Sturm und nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete mein Onkel die Haustür. „Nanu“, sagte er, „wo kommst du denn her?“. Der Taxifahrer vergewisserte sich, dass ich meinen Onkel auch kannte, verweigerte daraufhin jedwede Geldannahme mit der Begründung, einen Jungen solle man nicht nachts alleine sich selbst überlassen, stieg in sein Taxi und fuhr los.
Es war schon spät, wie ich von meiner Mutter erfuhr und eigentlich schon Zeit fürs Bett. Eine Moralpredigt hob man sich für den nächsten Tag auf, gab mir 2 Scheiben Brot mit Käse zum Abendbrot und schickte mich dann zu Bett. Ich versuchte die ganze Zeit zu erzählen, dass Jörg doch da draußen ganz alleine im Beton stand und fror, aber niemand hörte mir so richtig zu oder wollte meine Geschichte glauben. Man steckte mich ins Bett und ich fiel fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf.
Am Morgen wachte ich erst spät auf und hörte die Unruhe im Haus. Meine Eltern waren dabei, unsere Sachen für die anstehende Rückreise zu packen und beluden den Käfer.
Ich sprang aus dem Bett, hielt meine Tante am Ärmel fest und fragte, ob sie etwas von Jörg gehört hatte. Sie verneinte, sie kenne keinen Jörg und wüßte nicht wovon ich spräche. „Aber Jörg!“, rief ich. „Der, der im Beton festsaß letzte Nacht!“. Meine Tante schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst!“.
Wir fuhren noch am gleichen Tag zurück nach Hause und ich habe nie erfahren, was aus Jörg geworden ist.