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5xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Ernst Paul.
Veröffentlicht: 13.07.2024. Rubrik: Menschliches


Der Hut des Zorros

Erstaunlich gefasst verließ er die Arztpraxis und ging sehr konzentriert auf den Parkplatz. Er legte Hut und Gehstock auf den Beifahrersitz seines Pkws und fuhr los.
Ein letztes Mal wollte er zu dem Ort fahren, den er vor über sechzig Jahren besucht und glückliche Ferientage verbracht hatte.
Vor diesem Ort jedoch ließ ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht einen Waldweg einbiegen. Wie von Geisterhand gesteuert, fuhr er ein Stück diesen Waldweg entlang und parkte sein Auto. Dann stieg er aus, nahm den Gehstock in die Hand und setzte seinen Hut auf. Ein Geschenk seiner Frau, als sie erfuhr, dass sie unheilbar krank ist.
„Einen solchen Hut hat Zorro getragen“, sagte seine Frau damals. „Er hat ihn vor all den Gefahren seines Lebens geschützt. Auch dich wird so ein Hut vor den Gefahren und den Widrigkeiten des Lebens schützen“.
Er trägt seitdem diesen Hut. Seine Frau wollte wohl ihr Filmidol Alain Delon in den letzten Wochen ihres Lebens um sich haben. Vielleicht sah sie auch in ihm mit diesem Hut ihr Idol? Auch jetzt, zwei Jahre nach ihrem Tod, kommt er ihrem Wunsch gern nach.

Der Waldweg ist ausgetreten und ausgefahren. Der Regenguss am Morgen hat diesen Weg aufgeweicht. Wurzeln und die Spuren schwerer Forstfahrzeuge machen ihm das Laufen schwer. Er steigt über die Wurzeln und ausgefahrenen Rinnen und versucht mit seinem Gehstock die Balance zu halten. Er wird diesen Weg nicht verlassen. Im Unterholz zu laufen ist für ihn noch schwieriger: hohes widerspenstiges Gras, Farnkraut, Himbeer- und Holundersträucher sind für ihn noch stärkere Hindernisse.

Er geht weiter auf diesem Waldweg und versinkt tief in Erinnerung. Eine Bank, eine Steinbank, kommt darin vor. Eine Steinbank, auf der er einst gesessen, gespielt und geträumt hat. Er spürt, dieser Weg führt direkt zu ihr. Am Waldesrand findet er sie. Wie eh und je steht sie unter der alten knorrigen Eiche. Die Eiche ist noch mächtiger geworden. Ihr Kronengeflecht spendet reichlich Schatten und bietet Insekten und Vögeln Lebensraum. Bank und Eiche haben all die Jahre Wind und Wetter getrotzt und scheinen zusammenzugehören wie ein altes Ehepaar. Feines Moos ist auf dem Stamm der Eiche und den Seitenflächen der Bank gewachsen. Es schimmert wie schwarz-grünliche Patina. Die Sitzfläche ist blank und abgesessen. Initiale sind darauf eingeritzt. Niemand weiß, wer hier alles gesessen hat: Waldbesucher, die Rast eingelegt haben? Pilzsucher, die ihre Pilze säuberten? Liebespaare, die sich das erste Mal geküsst und dann ihre Initialen einritzt haben?
Vor über einem halben Jahrhundert war er zu jung, um sich ernsthaft für Mädchen zu interessieren. Seine Initialen hatte er trotzdem eingeritzt.

Auf der Steinbank nimmt er Platz, um auszuruhen und die Stille des Waldes zu genießen. Der Lärm der Stadt ist ihm unerträglich geworden. Die Kopfschmerzen erträgt er nur durch die Einnahme von Schmerzmitteln.
Er legt seinen Gehstock auf die Bank und setzt seinen Hut ab. Seinem kahlen Kopf bekommt die frische Luft gut. Seit heute Morgen weiß er, dass sein Hirntumor irreparabel ist. Der Neurologe sagte es ihm bei der Auswertung. Er hatte es geahnt, dass es schlecht um ihn gestellt ist. Trotzdem hatte er auf eine bessere Diagnose gehofft. Sein Mund war mit einmal trocken. Zu trocken, um reden zu können. Der Hals war zugeschnürt und machte das Schlucken unmöglich. Die Zunge, fast unbeweglich. Er stand auf, als der Arzt ihm diese Diagnose mitteilte und taumelte zur Tür. Noch bevor die Tür ins Schloss fiel, hörte er den Arzt mitfühlend sagen, er solle seine Zeit nutzen. Doch er wollte diese Worte schon nicht mehr hören und verließ die Praxis.

Ein Eichelhäher hat ihn bemerkt und verkündet mit rätschenden Warnrufen seine Anwesenheit.
Sag nur allen Tieren Bescheid, denkt er, es ist das letzte Mal, dass ich hier bin. Bald werde ich mich zur Ruhe begeben. Aber sage den Tieren auch, dass ich als Kind hier gespielt habe. Ich war „Lederstrumpf“, ein berühmter Spurenleser und Beschützer der Tiere. Hier auf dieser Steinbank habe ich gestanden und Ausschau nach den Feinden der Tiere gehalten. Bis in das Dorf konnte ich sehen. Auch das Haus von Tante Hilde sah ich. Ich winkte ihr immer zu, wenn sie im Garten Unkraut jätete.

Aus der Tiefe des Waldes hört er das Klopfen eines Spechtes. Allein der Gedanke, dass jemand mit dem Kopf gegen einen Baumstamm stößt, bereitet ihm Schmerzen. Doch nimmt er dieses Klopfen hin. Es gehört zu diesem Wald, dieses Klopfen in der Waldstille.

Ein Schmetterling landet auf einem Grashalm, direkt neben der Bank. Er schwingt mit seinen Flügeln und versucht, Balance zu halten. Wie er auf dem Waldweg mit dem Gehstock, genauso unsicher. Er erfreut sich immer wieder an den schönen Farben der Schmetterlinge. Dieses Tagpfauenauge, so findet er, ist besonders schön.

An Schönheit ist bei ihm nichts mehr zu erkennen. Ein kahler Kopf und eingefallene Wangen sind nicht schön anzusehen. Seine Frau hatte recht, als sie sagte, dass dieser Hut ihn schützt. Ja, er ist ein Schutz vor den mitleidigen Blicken der Nachbarn.

Eine Feuerwanze krabbelt auf seinen rechten Schuh. Welch bizarres Wesen, denkt er und beobachtet sie. Sie krabbelt bis zu seinen Schnürsenkeln, schaut sich um, als sei sie auf der Suche. Doch sie findet nichts und verschwindet wieder unter seiner Schuhsohle.

Ein Grashüpfer hat ihren Platz eingenommen und schaut kampfeslustig. Er nimmt dieses Duell an und greift nach seinem Gehstock. Der Grashüpfer scheint die Gefahr zu erkennen und verschwindet wieder.

Auf der Bank sucht er nach seinen Initialen. Er erinnert sich, an welcher Stelle er sie damals eingeritzt hatte. Doch sie sind verschwunden. Er holt sein altes Taschenmesser aus der Hosentasche und beginnt, seine Initialen in die Sitzfläche der Bank zu ritzen. Fein säuberlich und akkurat. Sie sollen wunderschön werden und für die Ewigkeit bleiben. Auch die Initialen von Sophie, seiner Frau, ritzt er in die Sitzfläche. Es ist mühsam für ihn und strengt sehr an.

Hier auf dieser Bank hat er nicht nur geträumt und gespielt, sondern auch Pilze grob gesäubert. Tante Hilde hat sie immer zubereitet. Zum Abendessen gab es dann Butterbrot und frische Waldpilze.
„Pilze aus dem Wald sind eine besondere Delikatesse“, pflegte seine Tante zu sagen, „sie müssen nur in guter Butter geschmort werden.“
„Und er müsse sie gesammelt haben“, ergänzte er oft. „Natürlich“, sagte sie dann und streichelte seinen Kopf.

Das gelbe Ährenfeld reicht bis zum Horizont. Vorbei an dem Dorf, in dem er die Ferientage verbrachte. Die einst roten Ziegeldächer spiegeln sich silbern in der Sonne. Solarpaneele sind auf fast jedem Dach montiert und geben diesem Dorf einen mystischen Anblick.
Hinter dem Windschutzgürtel, dort, wo eine Straße zum Dorf führt, stehen auf dem Berg riesige Windräder. Ihre Flügel durchschreiten die Luft und stören nicht nur die Vögel bei ihrem Flug, sondern verschandeln auch die schöne Aussicht. Allein der Anblick solcher Ungeheuer macht ihm Angst vor der Zukunft. An was für eine Zukunft soll er noch denken? Seine Zukunft ist absehbar. Bald wird er neben seiner Frau im Grab liegen. Sein Leben ist bald Geschichte.
Er setzt seinen Hut auf, nimmt seinen Gehstock und erhebt sich. Beim letzten Blick über das reifende Ährenfeld kommt ihm ein Gedicht aus seinen Kindertagen in den Sinn:

Goldne Ähre neigt sich tiefer,
rauschend weht der Wind durchs Feld.
Und es klingt so, als rief er:
Sind die Schnitter schon bestellt?

Ja, der Schnitter ist schon bestellt, denkt er und begibt sich auf den Rückweg.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von rubber sole am 13.07.2024:
Kommentar gern gelesen.

Hallo Ernst,

wenn schon eine solche Diagnose mit dieser Prognose, dann kann man den Protagonisten trotz allem beglückwünschen: Er scheint mit sich und seiner Welt im Reinen zu sein, mehr muss der Leser nicht erfahren. Deine Geschichte beschreibt das Gefühl des Abschieds empathisch und wohl temperiert. Sehr gerne gelesen.

l.g.r.s.




geschrieben von Bad Letters am 13.07.2024:
Kommentar gern gelesen.
Toll geschrieben Ernst Paul! Eine Geschichte, die alles bereithält, um den Leser gefesselt am Geschehen zu halten. Chapeau!

MfG
Bad Letters





geschrieben von Jens Richter am 14.07.2024:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Ernst,
ich habe Deine Geschichte wieder mit großer Spannung gern gelesen. Respekt!
Viele Grüße von Jens




geschrieben von Ernst Paul am 16.07.2024:

@rubber sole @Bad Letters @ Jens Richter

Ich freue mich sehr, dass Euch meine Geschichte gefallen hat.
Vielen Dank für Eure Zuschriften.
Mit freundlichen Grüßen Ernst Paul





geschrieben von Gari Helwer am 17.07.2024:
Kommentar gern gelesen.
Eine berührende Geschichte mit Tiefgang, Ernst! LG

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