Veröffentlicht: 21.06.2023. Rubrik: Unsortiert
Eine Erzählung aus dem Sommer 2001
Anfang Juni 2001 bekam unser Team der Hotelküche Verstärkung: Ein neuer Koch trat seine Stelle an. Wir brauchten dringend einen, in unserem Hotel und Restaurant gab es viel zu tun, im Sommer strömten die Touristen in unsere Gegend, die nicht nur die Landschaft bewundern, sondern auch gut essen wollten. Der Chef hatte François mit Kusshand genommen. Selbiger stammte aus dem Elsass, hatte angeblich adelige französische Ahnen, war Mitte zwanzig - und war unglaublich hübsch.
Agnieszka, die polnische Küchenhilfe, war sofort hin und weg.
„Was sieht er gut aus!", raunte sie mir hingerissen zu. Es ließ sich nicht leugnen: Er hätte als Model arbeiten können. Er besaß symmetrische Gesichtszüge, war dunkelhaarig und ein Blick aus seinen blauen Augen brachte Frauenherzen zum Schmelzen. Jedenfalls unsere. Sogar Robert, der Kellner, etwas älter als François und schon seit ein paar Jahren im Restaurant des Hotels tätig, war beeindruckt. „So habe ich mir Adonis immer vorgestellt", sagte er vollkommen neidlos, und alle kicherten.
Merkwürdig war, dass François nicht viel von sich erzählte. Obwohl Agnieszka ihn auszufragen versuchte, bekam sie nicht heraus, ob er eine Freundin hatte. Und auch nicht, ob sie bei ihm eine Chance hatte. Schließlich - denn man musste ja miteinander arbeiten und wie hätte es ausgesehen, wenn er ihr einen Korb gegeben hätte - begnügte sie sich damit, ihn anzuhimmeln und uns anderen von ihm vorzuschwärmen, wenn er es gerade nicht hören konnte. Niemanden nervte das, denn alle waren für seine Schönheit empfänglich.
Eines Tages fragte François den Chef, ob er übers Wochenende frei haben könnte. „Wenn du solche Wünsche hast, hättest du kein Koch werden dürfen", bemerkte Silvia, die Köchin, aber keineswegs in ärgerlichem, sondern eher neckendem Tone. Sie neckten sich in der Küche immer gegenseitig ein wenig. „Was hast du denn vor?" François antwortete ausweichend, er müsse etwas erledigen und das könne er nicht an einem Tage bewerkstelligen. (Für diejenigen, die es nicht wissen: Saisonarbeiter in der Gastronomie haben während der Sommermonate nur einen Tag die Woche frei, und diesen nur selten am Wochenende, weil dann am meisten Betrieb ist.) Der Chef gab ihm frei.
„Bestimmt trifft er sich mit seiner Freundin", vermutete Agnieszka.
„Kann schon sein", antwortete ich. Auch ich war für die Schönheit dieses Knaben nicht unempfänglich. „Die muss ja wahnsinnig gut aussehen", vermutete Agnieszka. „Wenn man so attraktiv ist wie er, dann laufen einem die hübschesten Frauen nach."
Nun - eine tat es nicht. Ob sie wirklich attraktiv war, weiß ich nicht, dafür aber, dass sie an diesem Wochenende mit ihm Schluss gemacht hat. Ein total geknickter François tauchte montags wieder in der Küche auf, redete kaum etwas, war auch nicht zu Scherzen mit der Köchin aufgelegt und dienstags sah man ihm sogar an, dass er geweint hatte.
Ein paar Tage später suchte er bei Agnieszka Trost - in dem Sinne, dass er nach der Arbeit mit ihr ausging und ihr sein Leid klagte.
„Der Arme!", sagte sie am nächsten Tag zu mir. „Seine Schönheit hat ihm nichts genutzt - sie will ihn nicht mehr."
Ich wunderte mich, dass Agnieszka ihn allem Anschein nach noch wollte. Für mich hatte er sämtliche Anziehungskraft verloren. Er war nicht mehr schön, er war nur noch traurig.
„So stellt man sich keinen Adonis vor", sagte ich zu Robert. „Er sollte Selbstbewusstsein habe. Er sollte drei Freundinnen an einem Finger haben bei seinem Aussehen. Statt dessen heult er wie ein Baby. Was soll man davon halten?"
Robert sah mich verblüfft an. „Du meinst, er soll ein Casanova sein? Das fändest du besser?"
„Das würde besser passen."
Robert überlegte. Dann zuckte er mit den Achseln. „Ach ihr Frauen. Ihr seid einfach nie zufrieden."