Veröffentlicht: 16.05.2023. Rubrik: Persönliches
Als die Leute noch singen konnten
6. April 1974
Es war der Tag des Grand Prix d' Eurovision und ich durfte dieses Ereignis am Samstagabend zusammen mit meiner Tante und deren Freundin anschauen. Weder meine Tante noch ihre Freundin waren verheiratet; für die damalige Zeit eher ungewöhnlich. Beide waren ca. Mitte 30, beide rauchten, waren erfolgreich im Beruf und unterhielten sich - im Gegensatz zu den Freundinnen meiner Mutter, deren jeder zweite Satz mit „Mein Mann sagt ja" begann, über interessantere Themen als über Männer und Kinder. Heutzutage würde man die beiden wohl Single-Frauen nennen.
Das Allerwichtigste für mich war: Beide quatschten bei dem Großereignis nicht bei der Musik dazwischen. Nur bei dem Kommentator, aber das ließ sich verschmerzen.
Die Musik gefiel mir an dem Abend ausnehmend gut. Für Deutschland traten Cindy und Bert auf, nicht unbedingt mein Lieblingsduo, aber doch recht annehmbar. Auch wenn ich niemanden kenne, der wirklich Bert mal herausgehört hat. Cindy war die dominierende Stimme von beiden und hätte alleine auftreten können. Aber als Paar waren sie hübsch anzusehen.
Für Luxemburg trat Ireen Sheer auf, mit dem Lied „Bye, bye, I Love you."
„Wieso darf die auf Englisch singen?", ärgerte ich mich. „Ich denke, jedes Land muss in seiner Nationalsprache singen?"
„In Luxemburg wird Deutsch, Englisch, Französisch und Luxemburgisch gesprochen", erwiderte meine Tante, „deswegen kann das Land unter den vier Sprachen eine auswählen."
„Achso", sagte ich enttäuscht. Da konnte man wohl mit einem Land, in dem nur eine Sprache gesprochen wurde, nicht glänzen.
Die Freundin meiner Tante steckte sich eine Zigarette an und bemerkte, nachdem sie den Rauch ausgeblasen hatte: „Da werden sich die Deutschen auch noch umstellen müssen. Sie werden bald auch in Englisch singen." Daraufhin folgte eine Fachsimpelei.
Ich hörte fasziniert zu. Die beiden Frauen hatten nicht nur eine eigene Meinung, sie kannten sich auch im Business aus. Als zehnjähriges Kind hat mich diese Gesprächsführung, die ich von anderen Frauen gar nicht kannte, enorm beeindruckt.
Der Gewinner des Abends war, wie jeder weiß, die Gruppe Abba mit „Waterloo". Mehr als der Gesang faszinierten mich die Outfits. Aber auf jeden Fall hatte das Lied verdient gewonnen, da waren wir drei uns einig.
Letzten Samstag schaute ich kurz in eine Musiksendung im Fernsehen hinein. Ich habe keine Ahnung, was das war, überwiegend Gekreische in Sprachen, die ich nicht definieren konnte. Dafür jede Menge Lichtspiele und Show-Einlagen.
Schade, dass es den Grand Prix d' Eurovision von damals, als die Leute noch singen konnten, nicht mehr gibt.