Veröffentlicht: 04.06.2023. Rubrik: Unsortiert
Die Dame im Wind
Ihr Name war Bella, aber alle kannten sie nur als „Die Dame im Wind.“ Fast jeden Tag sah ich sie am Rande der Klippen stehen, wie sie sehnsüchtig in die Ferne blickte, während ich mit meinen Brisen dafür sorgte, dass die Schleppe ihres federleichten, schwarz-roten Kleides sich
elegant in den Lüften wandte. Niemand wusste, woher sie kam, wie sie hieß oder warum sie täglich diesen Ort besuchte. Nur ich konnte ihre Gedanken in die Lüfte tragen. Ich schaffte es, in ihre Seele zu blicken und den Ausdruck in ihren Augen zu deuten. Sie war wie eine gute
Freundin, die mir, sobald ich mich bemerkbar machte, all ihre Sorgen anvertraute. Es schien fast so, als ob sie täglich auf mich wartete, selbst wenn ich ihr nur eine leichte Böe schenken konnte.
Jenen besonderen Tag, als wir uns zum ersten Mal begegneten, werde ich niemals vergessen. Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, während die Sonne langsam am Horizont versank und sich in einem wärmenden, orange-gelbem-rotem Licht spiegelte. Die ersten Sterne funkelten bereits hoch oben am Himmelszelt. Ich bereitete mich gerade auf eine leichte Brise vor, die sich mit voran geschrittener Zeit zu einem wahren Sturm
entwickeln sollte. Doch gerade als mein Auftritt beginnen sollte, sah ich sie. Eine zarte Dame mit langem, wellendem, schwarzem Haar, eingehüllt in einen mäusegrauen Mantel. Sie rannte aufgeregt über die mit Weidegrün übersäten Klippen, fast so, als würde sie von einer
unsichtbaren Größe verfolgt werden. Immer wieder blickte sie ängstlich zurück. Als die Dame sich in Sicherheit wiegte, blies ich ihr eine sanfte Brise ins Gesicht. In diesem Moment sah ich ihre braunen Augen, in denen kristallklare Tränen glitzerten. Während sie durch ihren
Seufzer eine unerklärliche Verbindung zu mir aufbaute, entspannte sich ihr Gesicht zunehmend. Je stärker diese Brisen wurden, desto stärker und wohler begann sie sich zu fühlen.
„Ach lieber Wind, ich danke dir“, sagte sie zu mir. „Du hast mir geholfen, meine innere Stärke in Zeiten der Angst wiederzufinden.“ Daraufhin drehte sie sich um und verschwand in meinem Schatten.
Von nun an kam die Dame mich jeden Abend bei Sonnenuntergang besuchen. Jeden Abend begrüßte ich sie mit einer leichten Brise und jedes Mal lächelte sie mich dankbar an. Ich bemerkte, wie ihre Gesichtszüge von Tag zu Tag entspannter wurden. Und jeden Abend verschwand sie lautlos in meinem Schatten. Es dauerte ganze zehn Tage, bis sie erneut zu mir sprach. „Ach lieber Wind, ich sah die Wolken weiterziehen. Ich sah die Vögel frei in deinem Beisein fliegen. Du wirbelst die Blätter durch die Lüfte und erfrischst die Menschen an einem heißen Sommertag. Du bist eine unbezahlbare Bereicherung für jeden von uns und für so viele Menschen bist du doch eine Selbstverständlichkeit. Was würden wir nur ohne dich tun?“ Überrascht von diesen Worten begleitete ich sie an jenem Abend nicht nach Hause. Sie hatte mich sprachlos gemacht. Noch nie zuvor war ein Mensch so freundlich zu mir gewesen. Auch noch Tage danach, spukten diese Worte immer wieder in meinem Kopf herum. Warum nur war ich zu einer so großen Bedeutung für eine so elegante Dame geworden? Zum ersten Mal nach einer sehr langen Zeit, kam in mir die Frage auf, vor was die Dame an jenem Abend
davongelaufen war und warum sich ihr Blick stets in der Weite des Meeres verlor. Um die Lösung auf all diese Rätsel zu finden, wollte ich sie danach fragen. Da wir uns allerdings nicht eine Sprache teilten, brauchte ich Hilfe. Darum wandte ich mich an meine Freunde die
Wolken. Von meiner Bitte überrascht, versprachen sie mir jedoch zu helfen.
Ein paar Stunden später, statte die Dame den Klippen ihren Besuch ab. Doch heute schien sie sich seltsam zu verhalten. Normalerweise grüßte sie mich kurz, aber heute wanderte ihr sehnsüchtiger Blick sofort in die Ferne. Um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, blies ich ein extra starker Windstoß aus, sodass ihre Haare zu flattern begannen. Aus ihren Gedanken gerissen, starrte sie überrascht in meine Richtung. Da tauchten die Wolken über ihr auf und formten einzelne Worte für sie. Wie heißt du?, las sie mit ihrer engelsgleichen Stimme laut vor. Unerwartet brach sie in einen tosenden Lachanfall aus. Es war ein freundliches,
ehrliches Lachen, das von Herzen kam. Da wusste ich, dass sie sich darüber freute.
„Ach lieber Wind. Entschuldige bitte, dass ich mich dir bisher nicht vorgestellt habe. So lange komme ich schon hierher und doch weißt du nicht einmal meinen Namen. Ich heiße Bella.“ Daraufhin befahl ich den Wolken, ihren Namen zu formen. Eine Freudenträne kullerte über
Bellas Wange. Ermutigt von ihrer Reaktion, wies ich die Wolken an, neue Worte zu formen: Woher kommst du?
Ihr Lachen verblasste. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. War ich vielleicht zu weit gegangen? Eigentlich ging es mich auch gar nichts an. Gerade als ich sie um Verzeihung bitten wollte, antwortete sie mir. Ich merkte, dass sie sich ihre Worte gründlich überlegt hatte. Ich hatte mit vielen verschiedenen Geschichten gerechnet, doch nicht mit dieser.
„Ich lebe in dem kleinen Dorf fernab der Klippen. Keiner dort weiß, wer ich bin. Sie kennen nicht einmal meinen Namen. Ich verstecke mich dort.“ Sie machte eine Pause, in der sie traurig auf das weite Meer hinaussah. „Weißt du, warum ich jeden Abend an diesen Ort komme?“ Ich wies die Wolken an, das Wort Nein zu formen. „An jenem Tag als ich hier angekommen bin, wurde ich von sehr gehässigen Männern verfolgt. Sie stammten aus einem weit entfernten Reich, in dem ich einst eine würdevolle Prinzessin war. Ich liebte das Königreich und mein Leben dort über alles. Doch eines Tages beschloss das Volk, dass sie die
Königsfamilie stürzen und die Macht übernehmen wollten. Sie überfielen das Schloss und überwältigten das Königspaar. Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es die Flucht zu ergreifen und den Männern, die mich zurückbringen sollten, zu entfliehen. Auf der Suche nach einem
Zeichen, schaue ich täglich auf dieses Meer hinaus. Nie die Hoffnung verlierend, in mein einstiges Leben zurückkehren zu können. Hier kann ich durchatmen und für einen Moment, all meine Sorgen vergessen. Wind, du und dieser magische Ort hier, geben mir die Stärke,
niemals aufzugeben.“ Daraufhin schenkte ich ihr eine leichte Brise. Sie merkte, dass ich sie trösten wollte. Dankbar lächelte sie mich an. Auf einmal fühlte sie sich so frei und befreit von ihrer Last. Daraufhin zog Bella ihren mäusegrauen Mantel aus, worauf ihr rot-schwarzes Kleid zum Vorschein kam. Es war von einem solch federleichten Stoff, dass es sich in die Lüfte erhob. Gebannt von dem wunderschönen Anblick, schenkte ich ihr leichte Böen. Die Schleppe ihres Kleides schwebte in der Luft. In diesem Moment sah ich nicht mehr die elegante Dame vor mir, sondern die wahre Schönheit einer Prinzessin, die ihre Flügel erhoben hatte, um zu fliegen.
Der Horizont war von der untergehenden Sonne in ein buntes Farbenspiel verwandelt worden. Die Dorfbewohner gingen ihrer täglichen Arbeit nach, als sie die Erscheinung bemerkten. Sprachlos beobachteten sie das Farbenspiel, das Wehen des Kleides und die Vollkommenheit, die von dieser Gestalt ausging. Ihr Anblick jagte den Dorfbewohnern eine
Gänsehaut ein und ohne sich darüber zu wundern, fühlten sie sich auf einmal hoffnungsvoller als sie jemals waren. Niemand wusste, woher sie kam, wie sie hieß oder warum sie täglich diesen Ort besuchte. Für alle war sie von nun an „Die Dame im Wind.“