Veröffentlicht: 20.02.2023. Rubrik: Grusel und Horror
Daniels Test
Prolog
Daniel stand vor seinem Pick-up und zog sein Handy aus der Tasche. Es war Mittwoch, der 15. Februar, 15.22 Uhr, und es herrschte schönes, sonniges Wetter. Er setzte seine Sonnenbrille auf und kletterte in sein Fahrzeug. Seine Gedanken wanderten zu dem gestrigen Tag und dem seltsamen Anrufer zurück.
„Entschuldigung, ich habe mich verwählt.“ Es war das erste Mal, dass er geredet hatte. Sonst hatte er immer sofort aufgelegt, wenn Daniel sich gemeldet hatte.
Das plötzliche Auflegen war in letzter Zeit so häufig passiert, dass es kein Zufall mehr sein konnte. Und Elaines angebliche Überstunden passten auch dazu. Wann hatte es angefangen, vor einem Monat, vor zwei? Vor sechs Wochen? Daniel ballte wütend die Fäuste. Er hatte schon vor einer Weile versucht, Elaine zur Rede zu stellen. Es hatte nicht funktioniert.
„Ich habe kein Verhältnis.“
„Ich weiß nicht, wer da angerufen hat.“
„Das traust du mir zu?“
Sie war durch und durch verlogen.
Er hatte einen Privatdetektiv engagiert. Die Fotoabzüge waren gestern gekommen und sprachen Bände. Elaine war mit einem Mann zu sehen, der Daniel vage bekannt vorkam. Ein Arbeitskollege, der Elaine mal in seinem Auto mitgenommen und vor ihrer Wohnung abgesetzt hatte? Der Privatdetektiv hatte seine Vermutung bestätigt. Es handelte sich um einen gewissen Michael Kaiser, in der Firma Elaines Vorgesetzter. Die Bilder lagen nun neben Daniel auf dem Beifahrersitz.
Was sollte er tun?
Es war zwecklos, mit Elaine zu sprechen. Er würde den Nebenbuhler einfach aus dem Weg räumen.
„Wirklich?“, fragte eine spöttische Stimme in seinem Kopf. „Sei doch nicht albern. Das ziehst du nie im Leben durch.“
Daniel war Schriftsteller. In seinen Krimis hatte er sich schon oft mit Tätern beschäftigt, eher mit der technischen Seite, Fundort der Leiche, der Fundort war nicht der Tatort undsoweiter. Und die Täter wurden in seinen Krimis immer geschnappt, das wollten die Leute lesen. Daniel hatte auch sich auch schon damit beschäftigt, wie gehetzt sich ein Täter nach der Tat fühlen musste. Erstmal die Leiche los werden … aber das war der technische, eher zu vernachlässigende Aspekt für ihn persönlich. Daniel stellte sich eine ganz andere Frage: Würde er einen kühlen Kopf bewahren? Würde er mit der Schuld leben können? Würde er sich nicht verraten?
Wie fühlte man sich in einer solchen Situation?
Er nahm die Fotos vom Beifahrersitz und steckte sie in seine Jackentasche.
Er hatte einen Plan.
Donnerstag, 16. Februar
Ruhig lag der See in der Abendsonne. Daniel fuhr mit seinem Pick-up soweit wie möglich an den Rand des Sees heran, schaltete den Motor aus und stieg aus. Niemand war zu sehen; in der winterlichen Kälte Mitte Februar verirrten sich selten Touristen an den See. Es sei denn, er wäre zugefroren. Es gab immer Abenteuerlustige, die darauf Schlittschuh liefen, egal wie viel Schilder auch davor warnten.
Zum Glück war der See nicht von Eis bedeckt. In dem Fall hätte er seinen Plan vergessen können. Daniel betrachtete die Ladefläche des Pick-ups. Er hatte das, was auf dem Boden lag, in Decken eingewickelt und mit mehreren Gurten festgezurrt. Auf dem Weg hierher hatte er davor gezittert, in eine Polizeikontrolle zu geraten.
„Dürfen wir uns einmal Ihre Ladung ansehen?“
Bei der Vorstellung hatte sein Herz schneller angefangen zu schlagen, und der kalte Schweiß war ihm ausgebrochen. Jetzt hatte sich seine Aufregung gelegt und war einer kühl kalkulierenden Stimmung gewichen.
In der Mitte des Sees lag ein Steg, auf dem Ausflügler weit laufen konnten. Am Ende des Stegs warnte ein Schild: „Wassertiefe 20 Meter! Baden ausdrücklich verboten!“
Mit dem Auto kam er nicht bis zum Steg; er musste es hier stehen lassen und die Last von Hand zum Steg schleppen. Er öffnete die Ladefläche des Pick-ups, löste die Seile, mit denen die Fracht festgezurrt war und zog den in Decken eingewickelten leblosen Körper herunter. Er schrak zusammen, als dieser polternd auf den Boden fiel, und sofort fing sein Herz wieder schneller an zu schlagen.
„So viel zum kühlen Kopf“, dachte er. Er stieg auf die Ladefläche, nahm die Seile, die als Befestigung gedient hatten, und umwickelte den steifen Körper damit. „Totenstarre“, dachte er und musste ein wenig schmunzeln. Damit musste man rechnen. Ächzend zog er den schweren Körper zum Steg. Das Ganze war doch ein hartes Stück Arbeit.
Am Steg angekommen, sah er sich zunächst misstrauisch um. Aber es war immer noch niemand zu sehen. Bald würde es dunkel werden, und bis dahin musste er sein Vorhaben beendet haben. Rings um den See gab es keine Beleuchtung, ebenso wenig wie auf dem Steg, und Daniel hatte nicht vor, aus Versehen ins Wasser zu fallen. Er konnte zwar schwimmen, aber im Stockdunkeln die Orientierung zu halten, wäre schon eine Herausforderung.
Als er am Ende de Stegs angekommen war, zögerte er und wusste selbst nicht warum. Es war doch alles gut gelaufen. Er hob den leblosen Körper hoch, löste die Seile, mit denen er ihn bis hierher gezogen hatte und wollte ihn gerade ins Wasser werfen, als ihn unter der Wasseroberfläche des spiegelglatten Sees etwas irritierte. Es sah aus wie ein Gesicht. Präziser gesagt, es sah aus wie Elaines Gesicht.
Das konnte nicht sein. Er ließ seine Last los – wieder fiel sie mit einem polternden Geräusch zu Boden. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, öffnete sie wieder und sah dann noch einmal ganz genau auf die Wasseroberfläche.
Und Elaine genau ins Gesicht. Ihr nackter Körper trieb unter der Wasseroberfläche, ihre geöffneten Augen sahen ihn an. Seltsamerweise hatte ihr Gesicht einen friedlichen Ausdruck.
„Elaine!“ Ohne zu überlegen, sprang er ins Wasser, ging zunächst unter und kam dann wieder an die Oberfläche. Aber von Elaine war nichts mehr zu sehen.
Verzweifelt tauchte er nach ihr. Ergebnislos. Nach 30 Minuten, als es langsam anfing, dunkel zu werden, gab er es auf.
Was zur Hölle war das gewesen? Einbildung? Eine Warnung? Eine Halluzination? Hatte er sich so in seine Fantasien hineingesteigert, dass in seiner Fantasie Elaine ums Leben gekommen war?
Er schwang sich auf den Steg und zog anschließend den leblosen Körper wieder zum Pick-up zurück. Jetzt war dieser nicht mehr Michael, der Nebenbuhler, sondern nur noch Kasimir, die Puppe, die er eigentlich war. Elaine hatte diese lebensgroße Figur aus Kunststoff, die mit einem lächerlichen Clownsgesicht bemalt war, vor einigen Jahren auf einem Flohmarkt entdeckt und mit nach Hause gebracht, sehr zu Daniels Entsetzen.
Die Lust auf den Test war ihm vergangen, die Sorge um Elaine trieb ihn an. Der Test war sowieso unsinnig gewesen, die ganzen technischen Schwierigkeiten, die es zu überwinden gab, hatten ihn vom eigentlichen Zweck des Planes abgelenkt: sich so zu fühlen, wie man sich fühlte, wenn man gerade jemanden umgebracht hatte.
Eine Stunde später kam Daniel vor seiner Wohnung an. Unterwegs hatte er paarmal versucht, Elaine anzurufen, doch sie hatte nicht abgehoben, weder auf dem Festnetz noch auf dem Handy.
Er stieg aus und stürmte geradezu in seine Wohnung. In der Küche war sie nicht. Im Schlafzimmer auch nicht.
Sie saß in der mit Wasser gefüllten Badewanne, die Augen geschlossen, ihr Kopf war leicht zur Seite geglitten. Sie sah aus, als sei sie eingeschlafen. Daniel rüttelte sei an der Schulter. Elaine zeigte keinerlei Reaktion.
„Elaine!“ Verzweifelt presste er seinen Mund auf den ihren und versuchte Mund-zu-Mund-Beatmung. Ließ zwischendurch ab und versuchte eine Herzmassage. Und wählte den Notruf.
„Ihre Lebensgefährtin ist leider verstorben“, teilte der Notarzt ihm einige Zeit später mit, nachdem alle Tests abgeschlossen waren und niemand Elaine wieder hatte zum Leben erwecken können. „Wir werden die Polizei anrufen. Das ist in solchen Fällen Vorschrift.“
„Sie hat sich umgebracht“, sagte Daniel. „Warum hat sie das nur gemacht?“ Er schluchzte laut auf.
Die Polizei kam und nahm alles auf. Es müsse eine Obduktion geben. Als sie sich schon wieder verabschieden wollten, wurde ein Polizist auf den Pick-up aufmerksam, auf dessen Ladefläche immer noch ein lebensgroßer, mit Decken umwickelter Körper lag, und informierte seinen Chef.
Und Daniels Antwort auf die Frage, wofür er diese Figur gebraucht hatte, passte gut ins Bild.