geschrieben 2018 von Elke Butthoff (Elke Butthoff).
Veröffentlicht: 09.11.2018. Rubrik: Total Verrücktes
Meine Tante
MEINE TANTE
Meine Tante ist anders als andere Tanten.
Als ich bei meinem letzten Besuch in Australien auf ihrer Farm ankam, reparierte Sie gerade die Zylinderkopfdichtung ihres alten Jeeps.
Meine Tante ist 82 Jahre alt und riecht anders als andere Tanten.
Bei anderen Tanten darf man damit rechnen, dass sie sich mit Tosca oder Kölnisch Wasser eindieseln.
Meine Tante riecht tatsächlich ein bisschen nach Diesel.
Sie hatte mich eingeladen, um meinen morgigen Geburtstag mit ihr zu feiern. Als Sie mich begrüßte, umarmte Sie mich herzlich und ich konnte förmlich spüren, wie die Ölrückstände ihres Jeansoveralls auf meine neue, sonnengelbe Bluse übergingen.
Statt deswegen peinlich berührt zu sein, wies Sie mich ganz pragmatisch darauf hin, dass ich in diesen Breitengraden keine Kleidung tragen sollte, die derart durchsichtig ist.
Das hatte nichts damit zu tun, dass meine Tante verklemmt wäre, ganz im Gegenteil.
Das Ozonloch sei wieder größer geworden, liege jetzt wieder weit über australischem Land und die Sonne würde mir das bisschen Stoff in kürzester Zeit vom Körper brennen.
Nein, verklemmt ist Sie wirklich nicht, meine Tante.
Direkt ist Sie.
Seit mein Onkel von uns ging, den Sie sehr geliebt hatte, führt Sie eine Art zweites Leben.
In den langen Telefonaten, die ich zwei bis dreimal im Monat mit ihr führe, berichtet Sie regelmäßig von ihren neuen Verehrern, die sich allerdings nie wirklich lange halten konnten.
Wir gingen ins Haus und da wir in etwa die gleichen Körpermaße haben, gab Sie mir aus ihrem reichhaltigen Fundus an farmarbeitsfreundlicher Kleidung ein langärmeliges Shirt, einen Overall aus zerschlissenem Jeansstoff sowie einen weiten Strohhut, der Ihrem sehr ähnelte.
Wie wir so vor dem Spiegel des Schlafzimmerschranks standen, sahen wir wie Zwillinge aus.
Besser noch, ich sah aus, wie meine Tante vor fünfzig Jahren. Ich kam mir vor, als wirkte ich in einem dieser Filme mit, in denen es ein magisches Zeitreisephänomen gegeben hat und die Protagonistin auf ihr jüngeres bzw. älteres Ich trifft.
"Das wird helfen", sagte Sie zu mir.
Später sollte ich erfahren, dass Sie damit keineswegs nur die Sonneneinstrahlung meinte.
Zusammen bastelten wir so lange an dem Jeep, bis er kurz nach Sonnenuntergang wieder ansprang.
Ein erhebendes Gefühl.
Am Abend mit dem Eindruck zu Bett zu gehen, mit eigenen Händen etwas geschaffen oder wiederhergestellt zu haben ist unbezahlbar. Der Tag verflog im Nu.
Ganz anders als die letzten Wochen zu Hause.
Seit ich meine Arbeitsstelle verloren habe und mein Freund mich verließ, schleichen die Tage vor dem Fernseher nur quälend langsam dahin. Meinen bevorstehenden Geburtstag in dieser trostlosen Art zu verbringen, war mir zuwider, deshalb nahm ich die Einladung meiner Tante an, räumte mein Konto leer und buchte den Flug.
Nun sitze ich hier in der staubigen Küche meiner Tante und löffele den Joghurt, den Sie extra für mich zum Frühstück besorgt hat. Meine Tante hält eigentlich nichts von den modernen
Ernährungstrends. Die lebenden Kulturen im Käse würden völlig ausreichen.
Überhaupt belasteten sich die Menschen mit gänzlich unnötigen Gedanken. Machen statt denken sei in den meisten Fällen viel sinnvoller, meint Sie.
Ich werde trübselig. Sage ihr, dass ich nicht weiß, für wen ich denn was machen soll.
Selbst wenn ich mich aufraffte, irgendwas zu tun, wäre es doch schön, jemanden zu haben, dem man am Abend davon berichten kann. Aber es ist ja niemand mehr da. Und mir auf Biegen und Brechen einen neuen Freund zuzulegen, kann ja nur in die Hose gehen.
Da hätte ich vollkommen recht, sagt Sie.
Aber erstens sollte man zunächst dafür sorgen, fuhr Sie fort, dass man etwas für sich selbst tut, denn nur wer sich selbst wohl fühlt, kann auch anderen etwas geben. Und wenn man jemanden zum Reden braucht, gäbe es auch dafür eine Lösung.
Ohne diese Lösung näher zu erläutern, dreht Sie sich um und geht nach draußen.
Sicher hält Sie mich für weinerlich und ich befürchte, in ihrer Gunst gesunken zu sein. Doch kaum hat sich die alte Holztür hinter ihr geschlossen, wird Sie wieder aufgestoßen. Mit einem breiten Grinsen betritt meine Tante die Küche und trägt einen Wombat auf dem Arm.
"Schau mal, das ist Kasimir und er ist ein sehr guter Zuhörer", sagt Sie.
Tatsächlich geht der Blick des Tieres nach oben, sobald meine Tante spricht. Meine Tante redet mit dem Tier in dem Tonfall, in den Erwachsene verfallen, wenn sie Kinder auf etwas neugierig machen wollen. Die Tonhöhe variiert dabei von ganz tief bis sehr hoch und in dieser Weise stellt Sie Kasimir meine Wenigkeit vor. Mit großen Augen schaut Sie dem Tier in die Seinen und nickt bestätigend, als Sie dem Tier meinen Namen nennt, während Kasimir meine Tante fixiert und jedes Wort aufzusaugen scheint.
"Das ist meine Nichte, Kasimir. Sie kommt von sehr weit her und ist ein wirklich außergewöhnlich netter Mensch."
Ich bin so geschmeichelt, dass es mir fast peinlich ist. Komisch, denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Tier auch nur ein Wort versteht. Doch als meine Tante eine Sprechpause einlegt, dreht der Wombat seinen Kopf und sieht mir unverwandt ins Gesicht.
Mir entfährt ein kurzes Lachen, denn das pelzige Etwas mit der Schweinchennase schaut mich so lange an, dass ich mich genötigt fühle, ein einfallsloses "Hallo" loszuwerden.
Kasimir antwortet direkt mit einem Laut der irgendwo zwischen Grunzen und Bellen anzusiedeln ist und sich tatsächlich irgendwie nach "hallo" anhört.
Diese Reaktion ist für meine Tante das Stichwort. Sie kommt auf mich zu, legt mir den erstaunlich schweren Kasimir in den Arm und meint dann, sie müsse noch ein paar Besorgungen machen.
Ich bin überrascht.
Der Wombat schnüffelt an den Klamotten, die ich trage. Nun weiß ich, warum es unbedingt ihre abgetragene Jeans sein musste: Kasimir grunzt zufrieden und rollt sich ein...
Ich habe Durst. Das kommt vom Sprechen.
Seit der alte Jeep vor vier Stunden vom Hof gefahren ist, liegt Kasimir auf meinem Schoss und lauscht meiner Lebensgeschichte.
Ich habe ihm alles erzählt. Ich meine wirklich alles. Zuerst kam ich mir dumm vor. Ich setzte ihn auf den Boden und dachte er würde nach draußen laufen. Immerhin sind Wombats Tiere, die in die freie Wildbahn gehören. Doch dieses Exemplar blieb vor meinem Stuhl sitzen und sein Blick schien sagen zu wollen: Na komm´, erzähl´, was liegt dir auf der Seele?
Als es nach einer halben Stunde noch immer dort saß, öffnete ich die Pendeltür nach draußen und hörte seine langen Krallen auf dem Fußboden als es mir nachkam. Es setzte sich vor mich hin und grunzte zwei Laute.
Was mein Gehör daraus machte, erstaunte mich, denn es klang wie eine Frage.
"Draußen?"
Ich gab auf und setzte mich auf die kleine, bunt bemalte Holzschaukel, die mein Onkel damals für meine Tante gebaut hatte, und die vor dem Haus links von der Tür auf der Veranda steht.
Der Wombat krallte sich ans vordere Sitzbrett und zog seinen massigen kleinen Körper hinterher.
Wie sich das Tier so abkämpfte, um sich neben mich setzten zu können, sah so lustig aus, dass ich in schallendes Gelächter ausbrach.
Endlich aufrecht sitzend, schwenkte sein Kopf zu mir rüber und nach einem strengen Blick ahmte es mein Lachen nach. Nur so kurz, dass ich das Gefühl bekam, mich bei meinem Zuhörer entschuldigen zu müssen.
"Sorry, aber das sah gerade wirklich voll lustig aus."
Wieder schaut es mich kurz an und maunzt wie eine Katze.
Ich höre:" Ist schon Ok.."
So sitzen wir zu zweit auf der sehr bequemen Schaukel und schauen geradeaus in die Ferne.
Ich komme mir schon wieder vor, als agiere ich in einem Film.
Aber ich fühle mich nicht allein. Nicht so wie zuhause, allein auf dem Sofa.
Nach einer Weile beginnen meine Füße, den Boden wegzudrücken und wir schwingen leicht vor und zurück. Die Bewegung ist heilsam.
Irgendwie schaut man von der Schaukel aus auf das Leben, und egal wie schwierig es gerade ist, man hat trotzdem das Gefühl, dass es weitergeht. Das man nicht stehenbleibt... Alles ist im Fluss...
Ich sehe den Wombat an. Er sieht mich an.
Ich schaue wieder nach vorne. Er schaut wieder nach vorne.
Ich beobachte ihn aus dem Augenwinkel. Als er es merkt, dreht er sein Kopf zu mir.
Als auch ich ihn voll anblicke, dreht er sein Gesicht wieder nach vorn und schaut in die Ferne.
Ich muss lachen und schüttele den Kopf, denn auch das kommt mir wie eine Unterhaltung vor...
Und dann erzähle ich.
"Ich fühle mich ziemlich einsam in letzter Zeit. Ich hätte nicht gedacht, dass man sich so einsam fühlen kann. Obwohl ich ja diejenige bin, die die Beziehung zu Kevin beendet hat. Ich meine wirklich beendet. Da gibt es kein Zurück..."
Kasimir summt ein 'mmh' und teilt mir mit, dass er verstanden hat.
"Er hat es aber auch herausgefordert, sage ich zu ihm. Kevin hatte nach drei Jahren Beziehung gemeint, er müsse sich eine Andere suchen. Ein paar hätte er ja schon ausprobiert, aber die seien alle nicht das Richtige gewesen und dann hat er diesen blöden Satz gesagt: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, und so weiter... Frechheit. Nach drei Jahren intensiver Prüfung bin ich also durchgefallen. Nicht zu fassen."
Kasimir schaut mich mit großen Augen an. Die kleine Schnauze mit der schweinchenartigen Nase steht offen, als hätte es ihm die Sprache verschlagen.
"Unglaublich, nicht wahr? Aber es geht ja noch weiter.
Wenn ich mich richtig ins Zeug legen würde, meinte er zu mir, gäbe es ja die Möglichkeit vielleicht noch ein Jahr dran zu hängen... eine Fristverlängerung, so zu sagen.
Da habe ich ihn gefragt, ob er heute irgendwie auf den Kopf gefallen sei.
''Nein," meinte er zu mir, ich solle doch mal überlegen, denn das sei ja auch ein Gewinn für mich. Immerhin sei der sexuelle Faktor ja auch wichtig, und bevor seine neueste Kandidatin heute zum Abendessen käme, könnte man auf dem Sektor ja noch ein paar Fortschritte erzielen.
Da bin ich hinten rüber gefallen."
Der Wombat wendet seinen Blick in Richtung Boden und faucht in einer Weise, die einem Angst machen könnte.
"Ja, du hast es erfasst. Ich war stinksauer! Aber ich bin cool geblieben."
Kasimir deutet ein Lächeln an und nickt mir auffordernd zu. Der Wombat will wissen, wie die Geschichte aus gegangen ist.
"Also gut. Ich habe ihm gesagt, ich müsse darüber nachdenken. Er hat gegrinst und es sich dann auf meinem Sofa bequem gemacht. Ich bin in die Küche gegangen und habe den Schnitzelklopfer aus der Schublade geholt. Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, hat er sich untenrum schon mal freigemacht. Als würde es sich nicht lohnen, für eine Nummer mit mir auch den Pulli auszuziehen.
Er hat den Klopfer nicht kommen sehen."
Der Wombat schweigt. Er schluckt deutlich hörbar, nickt aber wieder und rückt etwas näher an mich ran. Ich fühle mich verstanden und eine schwere Last fällt von mir ab. Einem Menschen hätte ich das niemals erzählen können.
Die Sonne hat inzwischen den Schatten von der Terrasse vertrieben. Ich bin nass geschwitzt und spüre den Durst deutlich.
Als ich aufstehe und uns etwas zu trinken holen will, biegt der Jeep in die Einfahrt ein. Meine Tante steigt aus und ruft uns zu.
"Na, wie war´s mit euch beiden?"
Angesichts des Geständnisses, dass ich gerade eben losgeworden bin, fehlt mir eine unverfängliche Antwort, doch Kasimir scheint eine zu haben. Ein Schwall von Lauten in den unterschiedlichsten Klangfarben prasselt auf meine Tante ein. Etwa zwei minutenlang quietscht, maunzt, faucht, jault und bellt er meine Tante an, und sie hört ihm aufmerksam zu.
Mir kommt es so vor, als würde er mich bei ihr verpfeifen, doch meine Tante lächelt mir aufmunternd zu und sagt nur:" Lass´ uns reingehen."
Beim Abendessen erzählt meine Tante von den letzten Tagen mit meinem Onkel.
"Er war immer so fleißig. Hat alles für mich gemacht. Ich hatte wirklich ein leichtes Leben. Er hat sich um alles gekümmert, mein Herbert. Irgendwann hat mich einfach interessiert, wie er das alles so macht. Hab ´ihn gefragt, wie man das Öl wechselt bei dem Jeep... und wie man
die Brunnenpumpe repariert, da hat er gemeint, das bräuchte ich nicht wissen, weil er das ja tun würde. Und weil es so viele Dinge waren, die ich nicht wissen brauchte, weil er sie ja gemacht hat, wollte ich von ihm wissen, wie man einen Stall baut."
"Einen Stall?"
"Ja, genau...Warum ich das wissen wolle, hat er gefragt und ich hab´ ihm gesagt, ich würde
gerne Wombats züchten...
Ich war perplex.
"Du züchtest Wombats?!"
"Ja. Seit zwei Jahren."
Meine Tante ist eben anders als andere Tanten.
Ich bitte Sie weiter zu erzählen.
"Herbert wurde richtig wütend. Warum, in aller Welt solle er mir erlauben, Wombats zu züchten. Die Viecher gäbe es hier schließlich haufenweise.
Weil es süße, aufmerksame Tierchen sind und weil es liebenswerte Hausgenossen wären, wenn sie nicht wild aufwachsen würden, hab´ ich ihm gesagt."
"Wie hat er darauf reagiert?"
"Er hat gesagt, ich sei bekloppt. Ich hätte doch mit den Hühnern und in der Küche genug zu tun.
Und wenn dem nicht so sei, meinte er, wäre es auch mal wieder Zeit, das Klo sauber zu machen."
"Gibt´s ja nicht! Ich wusste nicht, das Onkel Herbert so drauf war! Was hast du dann gemacht?"
"Erst hab´ ich alles stehen und liegen lassen. Hab´ gar nichts mehr gemacht. Man, war der sauer!
So dreckig, wie in den zwei Monaten war das Klo noch nie! Und die Küche erst! Herbert hat sich zwar unheimlich aufgeregt, aber leider hatte er auch ein wahnsinnig großes Durchhaltevermögen.
Bevor der irgendwas gereinigt hätte, wäre es eher zu Staub zerfallen. Irgendwann konnte ich nicht mehr, hab´ alles saubergemacht und die Taktik geändert."
"Wie denn?"
Kasimir setzt sich auf den Tisch und scheint aufgeregt, gibt aber keinen Laut von sich. Mit den Hinterpfoten stampfend schaut er meine Tante auffordernd an und freut sich offensichtlich auf den Höhepunkt der Geschichte.
"Ich habe mich neben ihn gestellt und nicht mehr mit ihm gesprochen. Das hat ihn zuerst irritiert. Später hat er dann nur mit dem Kopf geschüttelt und einfach weitergemacht mit dem, was er halt gerade so gemacht hat. Es war irgendwie, als wäre ich in der Lehre. Ich sah ihm über die Schulter, habe mir gemerkt, welches Werkzeug er für welche Dinge benutzt und weil ich ihm dabei immer zugeschaut habe, habe ich eine Menge gelernt. Er hat aber nie gefragt, ob ich ihm helfen will. Im Gegenteil. Irgendwann ist er ausgerastet und schrie mich an, ich solle ihn in Ruhe lassen und verduften.
Den Hammer hat er nicht kommen sehen..."
Mir steht der Mund offen. Wieder habe ich den Eindruck, meine Tante sei mein Zwilling. Was für eine grausige Übereinstimmung, die uns beide verbindet! Im ersten Moment will ich ihr Vorwürfe machen, doch der Gedanke an meine eigene Tat stoppt mich schnell. Ich weiß, was sie gefühlt hat, in diesem Moment. Ich kann es nachempfinden, diesen Schmerz, der daher rührt, dass der Mensch, dem man seit Jahren blind vertraut, einem die Selbstachtung entzieht.
Von jetzt auf gleich scheint man nichts mehr wert zu sein...
Meine Tante ist anders als andere Tanten. Ich bin anders als andere.
Oder sind wir doch alle gleich?
Ich bin wieder daheim, aber allein bin ich nicht.
Kasimir sitzt auf dem Sofa und erfreut sich an dem Katzengras, das ich für ihn in eine große Schüssel gepflanzt habe.
Der Spaziergang heute hat uns beiden gut getan. Wir haben die zwei Grabstellen besucht und jeweils einen Strauß Blumen abgelegt. Einen für Kevin, und einen für seine Freundin...