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geschrieben 2021 von Katla.
Veröffentlicht: 27.10.2022. Rubrik: Unsortiert


Das kaputte Sofa

Anton musste husten, als er eines der vielen Bilderalben seines verstorbenen Vaters aus dessen Wohnzimmerschrank nahm. Der Schrank war beinahe zwei Meter hoch und mit alten „Erinnerungsstücken“ vollgestopft, wie sein Vater die über die Jahrzehnte angesammelten Gegenstände gerne nannte. Es befanden sich darin alte Socken, ein defektes Bügeleisen, Zeitungen aus den Wochen, in denen nach der Meinung von Antons Vater weltbewegende Dinge geschehen sind, der Drehknopf eines Heizkörpers, alte Schnuller und Rasseln von Anton und seiner Schwester aus Kinderzeiten, ein Pfannenwender mit verbogenen Griff, zwei Topflappen mit Brandlöchern in der Mitte… Anton wusste, dass dieser Schrank nur einer von vielen im Haus war, der über die Jahre mit alten Dingen beladen worden ist und den Anton und seine Schwester Lina entrümpeln mussten. An den Dachboden und Keller wollte er momentan gar nicht denken.
Dennoch, als er die alten, verstaubten Fotoalben aus dem Schrank nahm, spürte er jähe Zuneigung zu seinem Vater. Auch wenn er alten Dingen einen emotionalen Wert zugeschrieben hatte, die die meisten Leute als Schrott bezeichnen würden, so hatte er dennoch viele Andenken an Antons Kindheit und Jugend aufbewahrt, an die Anton selbst sich schon gar nicht mehr erinnern konnte. Anton öffnete das Album, das auf dem Stapel ganz oben gelegen hatte, und sah gleich auf der ersten Seite ein Bild von sich selbst. Mit zahnlosen Grinsen und kurzen Badehosen stand er da, Arm in Arm mit seinem 30 Jahre jüngeren Vater, und hielt eine aufblasbare Gummipalme winkend in die Kamera. Anton schmunzelte. Diesen Urlaub hatte er schon so gut wie vergessen: Mit 9 Jahren waren er, seine Schwester und seine Eltern für eine Woche an der Nordsee gewesen und diese Gummipalme hatte er an einer Schießbude tags zuvor gewonnen. Seine Schwester war ganz grün vor Neid geworden und hatte zwei Tage nicht mehr mit ihm gesprochen, bis sein Vater ihn dazu überredet hatte, auch seine Schwester mal mit ihr spielen zu lassen. Mit starken Sentimentalitätsgefühlen blätterte er durch das verstaubte Album mit Kinderfotos, die nicht nur ihn, sondern auch seiner jüngeren Schwester Lina auf längst vergangenen Geburtstagen, bei Wanderausflügen und Fahrradtouren zeigten.

„Was hast du da?“, fragte Antons Schwester Lina hinter ihm und schreckte ihn aus seinen Gedanken.
„Ein altes Fotoalbum mit Bildern aus unserer Kindheit“, antwortete er und reichte es ihr.
Sie wischte über den verstaubten Einband, sodass man die verblichene Beschriftung darauf lesen konnte.
„Erinnerungen 1989-1991“, las sie vor. „Na immerhin hat Papa ein paar Sachen aufgehoben, die tatsächlich einen Erinnerungswert haben.“
Anton entging der leicht spöttische Unterton nicht. „Papa ist erst eine Woche tot und du schlägst schon so einen Ton an, wenn du über ihn redest?“
„Ich habe schon bevor Papa verstorben ist so mit ihm und auch über ihn geredet, er wusste immer was ich von seinem Sammelzwang hielt“, entgegnete Lina und reckte das Kinn. „Selbst jetzt, wo wir sein ganzer Plunder alleine von diesem Haus trennen müssen, willst du nicht einsehen, dass Papa da einfach ein Problem hatte.“
Anton schnaubte und ging aus dem Wohnzimmer, um neue Müllsäcke zu holen. Er wusste genau, dass Lina Recht hatte, doch würde er es niemals zugeben.

Den ganzen Tag befreiten Anton und Lina das Haus von alten „Erinnerungsstücken“, die direkt in den Mülltüten landeten. Obwohl es ein angenehmer Sommertag ohne drückende Hitze sondern mit strahlender Sonne und einer kühlen Brise war, schwitzen die beiden bei der anstrengenden Arbeit. Jeder Schrank, jede Kiste und jede noch so kleine Möglichkeit der Aufbewahrung von Dingen wurde von Linas und Antons Vater dafür verwendet, in ihren Augen wertlosen Schrott darin zu sammeln. Einige Schränke waren so vollgestopft, dass ihnen sogar der Unrat entgegen fiel, sobald sie die deren Türen öffneten.
Nach fast 9 Stunden, drei Wutausbrüchen und sogar einem kurzen sentimentalen Tränenausbruch seitens Anton, nachdem er seinen ersten Teddybär Karsten wiederfand, hatten sie die beiden Etagen sowie den Keller des Hauses beinahe gänzlich von allen Dingen getrennt, die sie nicht verschenken, versteigern oder auf dem Flohmarkt verscherbeln wollten.
In der Küche setzten sie sich auf zwei knarzende Holzstühle und packten Brote und ein paar Äpfel aus.
„Nur noch der Dachboden und dann haben wir’s tatsächlich geschafft“, sagte Lina kauend.
Anton stöhnte. „Der Dachboden! Den habe ich ja total vergessen. Ich wette, da oben liegt insgesamt genauso viel Zeug herum wie wir im restlichen Haus bereits entsorgt haben. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob wir den heute auch noch schaffen.“
„Ziemlich sicher nicht“, antwortete Lina. „Ich würde vorschlagen, wir verschaffen uns nur mal einen Überblick über die Situation da oben, damit wir wissen, auf was wir uns für morgen gefasst machen müssen.“
Anton zog eine Augenbraue nach oben und nickte.

Eine halbe Stunde später standen sie gemeinsam unter der Tür zum Dachboden, an der ein Seil nach unten hing. Anton nahm es und zog kräftig daran, sodass die Tür aufklappte und sich die Treppe entfaltete. Anton voraus gingen sie nach oben.
Die Luft war trocken und staubig und brachte Lina sofort zum Husten. Durch die Sonneneinstrahlung den ganzen Tag war es zudem heiß dort, was Anton sogleich mit einem „verdammt, wie eklig warm hier oben“ kommentierte. Lina tastete an der rechten Wand vom Eingang und fand den Lichtschalter. Der Dachboden wurde von einer kahl von der Decke hängenden Glühbirne erleuchtet und beim Anblick, den sich beiden darbot, verschlug es ihnen den Atem.
Der Dachboden war leer.
Kein mit Kleinteilen vollgestelltes Regal, keine Truhen mit uralten „Schätzen“, keine Stapel von alten Zeitschriften und keine defekte Schreibmaschine oder Drucker in den Ecken. Der Boden war komplett frei, nicht einmal ein Teppich war darauf ausgebreitet. Es sah beinahe so aus, als wäre hier oben niemals jemand gewesen, als hätte niemand überhaupt von der Existenz dieses Ortes gewusst. Eine Sache jedoch sprach gegen diese Annahme: Mitten im Raum des Dachbodens stand ein Sofa.
Es war ein kleines Sofa mit zwei Sitzen. Die Polsterung war an vielen Stellen von gelb zu bräunlich übergegangen, es ließ sich jedoch erkennen, dass die Ursprungsfarbe Weiß gewesen sein muss.
„Ich glaub es nicht“, flüsterte Lina und näherte sich mit halb geöffnetem Mund dem kaputten Sofa.
„Was glaubst du nicht? Das Papa hier oben nur ein altes Sofa abgestellt hat und sonst nichts, wo er doch das restliche Haus zugemüllt hat?“
Lina warf ihm über die Schulter einen erstaunten Blick zu, ob seiner wahren und doch harten Worte gegenüber dem Vater. Anton zuckte nur mit den Schultern.
„Wo du Recht hast… Aber was genau erstaunt dich hier denn?“
Sie wandte sich wieder dem Sofa zu. „Erkennst du das nicht? Dieses Sofa?“
Anton betrachtete der gelblich-braune Überrest eines Sofas verdutzt und schüttelte den Kopf. Obwohl Lina es nicht gesehen haben kann, fuhr sie fort:
„Natürlich kennst du das alte Ding hier. Das war unser erstes Sofa, nachdem Papa endlich wieder nach seiner langen Arbeitslosigkeit einen Job hatte und wir es uns leisten konnten!“
Jetzt erinnerte Anton sich.
„Ja sicher!“, rief er. „Darauf haben wir das erste Mal auch gemeinsam Fern gesehen und Filme geschaut! Auf dem alten Ding saßen wir alle zusammen auch als Deutschland 1994 Weltmeister wurde und bei den Anschlägen am 11. September 2001.“
Lina drückte mit ihrer Hand auf eines der beiden Sitzkissen und lachte. „Das Ding ist komplett durchgesessen. Man kann sogar schon die Federn spüren.“
Anton trat ebenfalls näher und ließ sich auf das linke Sitzkissen fallen.
„Stimmt, gar nicht mal so gemütlich“, sagte er.
Lina schmunzelte und setzte sich neben ihn. Sie strich über die Armlehne zu ihrer linken und sagte leise: „Auf diesem Sofa hab ich damals als Teenager mit meinem ersten Freund rumgeknutscht.“
„Ich habe hier auf dem Sofa jedes Jahr mit meinen Kumpels und viel Alkohol meinen Geburtstag gefeiert, bis ich 23 wurde und ausgezogen bin.“, ergänze Anton lächelnd.
„Wie oft wir uns hier schon um die Fernbedienung gestritten haben!“, lachte Lina, worauf Anton ebenfalls zu lachen anfing.
„Stimmt, bis du mir einmal sogar eine blutende Nase dabei verpasst hast! Mama ist total ausgerastet und hat uns beide eine Standpauke gehalten. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie man als Geschwister wegen einer Fernbedienung so streiten konnte.“
Bei den Gedanken an ihre Mutter wurden beide stiller. Einige Momente schwelgten beide schweigend in Erinnerungen.
„Mama hat immer versucht, Papas Aufbewahrungswahn wenigsten ein bisschen in den Griff zu bekommen“, flüsterte Anton in den staubigen Raum hinein. „Irgendwann hat sie es aber aufgegeben und es einfach hingenommen.“
Lina nickte gedankenversunken. „Ich glaube aber, es hat sie immer gestört.“
Mit einem Ruck wandte Anton sich seiner Schwester zu, was diese zusammenzucken ließ, und sagt mit fester Stimme: „Mama muss dieses Sofa hier oben abgestellt haben!“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Na ist doch klar! Papa hat das ganze Haus zugemüllt – nur hier oben ist nichts! Kein altes Bügeleisen, keine vergilbten Zeitungen, kein sonstiger wertloser Schrott. Nur dieses Sofa… Das tatsächlich einen emotionalen Wert für uns alle in der Familie hatte. Wenn Papa den Dachboden ebenfalls als Aufbewahrungsort benutzt hatte, wäre er niemals so leer. Mama muss ihm verboten haben, hier oben auch noch alles zu zumüllen. Und als einziges Erinnerungsstück von ihr selbst hat sie dieses alte Sofa hier oben platziert.“
Lina sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und dachte über seine Worte nach.
„Ich gebe zu, dass das durchaus Sinn macht. Mama waren gemeinsame Momente in der Familie immer sehr wichtig. Klar, dass sie unser Sofa da als Sinnbild dieser Momente betrachtet hatte und es nicht übers Herz brachte, es wegzuschmeißen.“
Anton stimmte ihr nickend zu und ließ wieder gedankenverloren seinen Blick durch den Raum schweifen.
„Ich vermisse Mama“, fügte Lina nach einigen Sekunden mit gebrochener Stimme hinzu.
Anton nickte wieder und legte seinen Arm um ihre Schulter.
Sie saßen mehrere Minuten schweigend so da und hingen ihren Erinnerungen nach, bis Linas Handy klingelte und sie beide aus der Trance riss. Sie ging ran, wechselte einige Worte mit dem Anrufer und steckte es anschließend seufzend wieder in ihre Hosentasche.
„Das war Malik, er und die Kinder fragen schon, wann ich endlich nach Hause komme.“
„Er hat Recht“, antwortete Anton. „Das reicht für heute. Morgen machen wir weiter.“
Sie erhoben sich gleichzeitig vom Sofa und warfen nochmal ein Blick darauf.
„Wir werden es wegschmeißen müssen.“, sagte Lina.
„Das kommt mir nicht richtig vor… Und so kaputt ist es auch noch gar nicht. Lass uns versuchen, es zu spenden.“
Lina zog skeptisch eine Augenbraue nach oben, sagte jedoch nichts mehr.

Am nächsten Morgen riefen sie bei verschiedenen Einrichtungen für Jugendliche an und fragten, ob ein gebrauchtes Sofa benötigt wurde. Sie hätten ein altes, das zwar schon sehr durchgelegen, jedoch zu schade zum Wegwerfen sei. Nach einigen Versuchen sagte ein Jugendhaus mit dem Namen „Milky-Way“ am anderen Ende der Stadt zu und bat, es im Laufe des Tages einfach vorbei zu bringen.
Mit der Hilfe des netten jungen Nachbarn und dessen vom Fitnessstudio gestärkten Arme schafften Lina und Anton es, das kaputte Sofa vom Dachboden in den gemietete Transporter zu hieven. Als sie zwanzig Minuten später am Juegndhaus ankamen, begrüßte sie freundlich die Sozialarbeiterin, die sich mit dem Namen Carina vorstellte und viele Piercings im Gesicht und Tattoos auf den Armen trug, und zeigte Ihnen den Weg zum neuen Platz des Sofas. Es wurde an die Wand eines kleinen Raumes gestellt, in dem ein Billardtisch und ein großer Kühlschrank stand.
Lina und Anton wischten sich den Schweiß von der Stirn und ließen sich ein letztes Mal auf das Sofa fallen. Die Sozialarbeiter Carina besah sich das Sofa genauer und sagte vorsichtig:
„Das ist aber schon ein sehr altes Ding.“
„Unser altes Familiensofa“, antwortete Anton. „Das gemütlichste Sofa, auf dem ich jemals gesessen bin. Es hat viel mitgemacht und kann vermutlich mehr Geschichten erzählen, als die meisten Jugendlichen, die hier rumhängen.“
Carina lächelte wissend. „Ich verstehe!“
Lina lächelte ebenfalls, strich noch einmal über die Armlehne und stand endgültig auf.
„So, das war’s. Viel Spaß damit!“
Das Geschwisterpaar tauschte noch einige nette Worte mit Carina und fuhr mit dem Transporter zurück zum Elternhaus.
„Dann war doch nicht alles Schrott in diesem Haus“, sagte Lina zu Anton während der Fahrt. Dieser blickte kurz von der Straße zu ihr und lächelte. „Manche Dinge sind es vielleicht doch wert, aufzubewahren.“

Noch am Nachmittag desselben Tages trafen sich die beiden Jugendlichen Saliha und Maik im Jugendhaus „Milky-Way“ und beide hatten sie einen beschissenen Schultag hinter sich. Saliha hatte zwar eine weitere 1 in Mathe geschrieben, allerdings eine Strafarbeit bekommen, nachdem sie ihrer Mitschülerin aus Hunger das Pausenbrot geklaut hatte. Maik wurde erneut wegen Rauchen auf dem Schulhof zum Direktor zitiert und erwartete nun zu Hause eine Strafpredigt von seinen Eltern.
„Scheißtag“, murrte Maik zu Saliha, als die beiden sich am Kühlschrank trafen und jeder sich eine Cola Zero daraus nahm. Saliha nickte nur.
„Aber wenigstens ein neues Sofa“, fügte Maik verwundert hinzu. „Sieh‘ mal.“. Er deutete auf das vergilbte Sofa an der Wand und ging gleich darauf zu, um sich darauf fallen zu lassen.
Saliha tat es ihm nach, verzog jedoch das Gesicht, als sie auf das Sofakissen neben Maik plumpste.
„Da stechen einem ja fast die Federn in den Hintern“, beschwerte sie sich.
„Und riechen tut es auch, als hätte es Jahre lang auf dem Dachboden vor sich hingegammelt“, ergänzte Maik mit gerümpfter Nase.
„War wahrscheinlich geschenkt, ansonsten hätte Carina sich das mit Sicherheit nicht andrehen lassen.“
„Einfach nur Schrott“, stimmte Maik ihr nickend zu.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 29.10.2022:

So unterschiedlich kann der Wert einzelner Dinge sein, für Menschen, die gute Erinnerungen mit diesem alten Sofa verbinden, hat es noch einen ideellen Wert. Für andere ist es einfach nur Müll.

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