Veröffentlicht: 15.10.2022. Rubrik: Persönliches
Fliegerei
Der Tag, an dem dein Urgroßvater mir das Fliegen beibrachte, war grau. Es war kurz nach meinem Geburtstag. Ich war gerade drei Jahre geworden. Und kann mich genau erinnern. Es regnete und regnete und regnete. Wir liefen die Straße entlang. Ein Fuß auf dem Gehweg, den anderen auf der Straße. Da, wo das Wasser lief. Es spritze und platschte und spritzte und platschte. Bei mir spritzte es. Bei meinem Vater, deinem Urgroßvater platschte es. Den ganzen Weg bis zu meiner Großmutter, deiner Ururgroßmutter.
Dort standen wir im Treppenhaus. Wir waren patschnass. Mein Vater, dein Urgroßvater rubbelte mir die Haare trocken.
„Meine Hose ist auch nass!“ Ich tropfte auf den Holzboden. „Und mein Pullover!“
„Das macht nichts!“, sagte mein Vater, dein Urgroßvater. „Nasse Wäsche trocknet am besten im Flug Wind!“ Er stellte mich auf den großen, sehr großen, wirklich sehr großen Marmorsockel im Treppenhaus. Er war so hoch, wie zwölf Treppenstufen hinauf oder herunter reichen. Je nachdem, woher du kommst. Von unten oder von oben. Ich kam von unten. Aber eigentlich kam ich nicht, mein Vater, dein Urgroßvater, hob mich auf den Marmorsockel.
„Breite deine Arme aus!“, sagte er, „Jetzt lauf und spring!“
Und ich breitete meine Arme aus. Weit. Sehr weit. Und ich lief. Schnell. Ganz schnell. Und sprang. Und flog. Weit. Ganz weit . Mit ausgestreckten Armen meinem Vater entgegen. Der fing mich kurz vor dem Boden auf.
„Ich kann fliegen.“, erzählte ich später meiner Mutter, deiner Urgroßmutter.
„ Das können nur Vögel.“, sagte sie.
„ Und ich!“, widersprach ich. Und mein Papa, dein Urgroßpapa, lächelte und nickte.
„Und wenn wir ganz oft üben, fliegst du irgendwann. Ganz allein. Fliegst höher und höher und höher.“
Wir übten fast jeden Tag. Im Wald zog mein Vater, dein Urgroßvater Äste mit seinem Wanderstock nach unten. Er hielt sie fest. Ich kletterte darauf und klammerte meine Arme drum herum. Mein Vater, dein Urgroßvater ließ los. Der Ast schnellte mit mir darauf in den Himmel hinein. Zu Hause übte ich allein. Ich sprang von der Fensterbank ins Bett meiner Eltern, deiner Urgroßeltern. Flog über einen Meter weit durch die Luft. Dann landete ich mit einer Flugrolle im Bett. Manchmal passierten auch Unfälle. Einmal landete ich nicht in der Mitte des Bettes. Mein Arm schlug gegen die Wand. Tränen kullerten über mein Gesicht.
„Macht nichts!“, rief mein Vater, dein Urgroßvater, „Indianer kennen keinen Schmerz!“ Er nahm mich in den Arm. Und dann warf mich hoch in die Luft. Wieder und wieder und wieder. Lachend fiel ich in seine Arme. Später, nach weiteren Flugversuchen, war mein Arm geschwollen. Wir fuhren ins Krankenhaus. Dort wurde ein komisches Foto vom Arm gemacht. Er war verstaucht. Und ich bekam einen Gipsverband.
„Das heilt wieder!“, sagte mein Vater, dein Urgroßvater und kaufte mir zum Trost und, weil ich so tapfer war, einen Windvogel. Den ließen wir zu den Wolken steigen.
Mein Vater, dein Urgroßvater, faltete ein weißes Blatt, befestigte es an der Drachenschnur. Schnell flog es im Wind ganz nach oben. Ich wünschte mir einen Windvogel, der ganz groß war. Mein Vater, dein Urgroßvater, würde mich an die Schnur binden. Dann flöge ich bis in die Wolken. Und über die Wolken hinaus. Leider habe ich bisher so einen Drachen nicht bekommen.