Veröffentlicht: 03.11.2021. Rubrik: Unsortiert
Großmutter
Ich reibe den Stein in meiner Hand. Alt ist er. Abgeschliffen von vielen Händen. Türkis strahlt er Sonne in meine Hand.
„Solange du diesen Stein hast, wirst du immer glücklich sein.“, flüsterte meine Großmutter. Ihre schwarzen Augen weit aufgerissen. Langsam hob sie ihre Hand, drückte mir den Stein in die Hand.
„Es ist das Glück des Skarabäus.“, sagte sie noch, dann schloss sie ihre brennenden Augen. Und starb. Ein letzter tiefer Atemzug, ein leises Flackern. Ein Zittern im Skarabäus. Und sie war tot.
Lächelnd schwebte sie zur Decke. In einem rosenroten Blütenkleid.
„Mach‘s gut, meine Kleine!“
Dann flog sie aus dem Fenster. In den Baum hinein.
Ihr alter Körper lag schwer auf dem Bett. Ich legte meine Stirn auf ihre Brust. Da war kein Heben. Kein Senken. Kein Herzschlag. Nichts. Gar nichts. Ich legte meine Finger auf ihren Mund. Wie kalt ihre Lippen waren.
Warm war der Skarabäus in meiner Hand.
Ich ging zum Fenster. Schloss den Vorhang
Aus dem Schrank holte ich eine Kerze. Zündete sie an. Stellte sie auf den Boden. Ganz leise ging ich aus dem Zimmer.
In der Diele hörte ich die Stimmen meiner Familie. Sie saßen im Esszimmer. Redeten. Leise. Lauter. Mein Bruder erzählte, wie meine Oma ihm Schwimmen beigebracht hatte.
Ich ging leise zur Türe hinaus. In den Garten. Zum Baum vor dem Fenster. Dem Fenster zum Zimmer in dem der alte Körper lag. Ich lehnte mich an den Stamm des Baumes. Warm, rau, runzelig streichelte er mich.
„Es ist gut!“, flüsterte eine Stimme.
Ich blickte nach oben. Auf einem Ast saß meine Großmutter. In ihrem rosenroten Blütenkleid. Sie schlenkerte fröhlich mit den Beinen.
„Du bist ja noch da!“, staunte ich.
„Ja, eine Weile noch!“, sagte sie. „Wo ist der Skarabäus?“
Ich zeigte ihr die offene linke Hand. Türkisgrün strahlte der Käferstein in der Sonne.
„Gut! Vergiss ihn nie! Deinen Glücksstein!“
Ich nickte. Verstand nichts. Nicht den Stein. Nicht das Glück des Skarabäus. Nicht das rosenrote Blütenkleid.
„Folge deinem Stein!“, summte die Großmutter. Und flog drei Äste höher. Balanzierte auf einem dünnen Ast zum Nachbarbaum. Einer Kirsche. Ihr Rosenkleid verschmolz mit den Kirschblüten.
Kirschbaumblütenkleid, dachte ich. Dann war sie verschwunden.
Langsam ging ich ins Haus zurück. Setzte mich an den Tisch. Zu meinen Eltern, meinen Onkeln, meinen Tanten. Zu den sieben anderen Enkeln.
„Oma ist tot!“, sagte ich.
Alle nickten. Meine Mutter schob mir ein Foto zu. Oma in den mittleren Jahren, ein Baby auf dem Arm.
„Das bist du!“, sagte meine Mutter.
Am nächsten Tag wurde der alte Körper abgeholt. Oma saß auf dem Dachfirst, winkte dem Leichenwagen hinterher.
Der Pfarrer kam. Wir erzählten von Oma. Lachten und weinten.
„Was für ein Leben!“, sagte der Pfarrer, fragte: „Wer war denn bei ihr. Als sie starb?“
„Ich!“ „Ich!“ „Ich!“, sagten alle. Wir schauten uns irritiert an.
„Nein, nur ich! Sie hat mir den Skarabäus gegeben.“
Alle Enkel öffneten ihre linke Hand. In jeder leuchtete das Glück des Skarabäus.
Draußen flog eine rosenrote Blütenwolke vorbei.