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5xhab ich gern gelesen
geschrieben 2022 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 04.09.2022. Rubrik: Menschliches


Elinor

Diese Geschichte hatte ich am 09.03.2022 gepostet, später aber wieder gelöscht, da sie keine „gern gelesen“-Klicks erhielt. Jetzt poste ich sie noch einmal, denn mir selber gefällt sie sehr gut.


Irgendwann zu jener Zeit, als es zwar schon Computer und Handys, aber auch noch viele Festnetzanschlüsse gab, als Kollegen im Büro sich oft noch siezten und Corona noch in weiter Ferne lag, traf Daniel Hagen auf Elinor Braun.

Als er sie an seinem ersten Arbeitstag bei der Firma Mertens an ihrem Schreibtisch sah, war es sofort um ihn geschehen. Die oder keine. Obwohl er noch kein Wort mit ihr geredet hatte. Mit unbändiger Freude stellte er fest, dass sie keinen Ehering trug.

„Mach dir keine Hoffnungen“, warnte Max, der einzige Kollege, den er schon seit der gemeinsamen Schulzeit kannte. „Sie ist unnahbar. Total verschlossen. Niemand wird klug aus ihr.“

Tatsächlich saß sie wie eine Statue im Büro. Mit ihren feinen, ebenmäßigen Zügen, zu denen der aparte Vorname passte, ähnelte sie einer antiken Kaiserin oder sogar Göttin. Klopfenden Herzens hatte Daniel ein paarmal das Wort an sie gerichtet, und jedes Mal hatte sie höflich, aber kurz geantwortet. Er war sich jedoch sicher, dass es keine Überheblichkeit war. Vielmehr glaubte er in ihren Augen eine heimliche Traurigkeit zu erkennen.

Am letzten Montag von Daniels erstem Monat bei der Firma Mertens fehlte Elinor. Daniel erschrak, doch Max erläuterte: „Einen Montag im Monat nimmt sie immer frei. Außer wenn es sowieso ein Feiertag ist. Sie zieht diese Tage dann vom Urlaub ab.“

„Und warum?“, fragte Daniel. Max zuckte die Schultern. „Das weiß niemand von uns. Hat sie mit dem Chef so vereinbart.“

Daniel war immer mehr davon überzeugt, dass seine Angebetete ein tragisches Geheimnis verbarg. Als sie am nächsten Tag wieder in der Firma erschien, versuchte er einen Hinweis zu erhaschen, wo sie gewesen war, doch es gelang ihm nicht.

*

Tags darauf jedoch war Daniel gerade in der Nähe ihres Schreibtisches, als das darauf stehende Telefon schellte. Elinor guckte auf die Nummer auf dem Display, hob ab und flüsterte: „Bitte nicht hier anrufen! Ich rufe zurück!“, bevor sie den Hörer wieder auflegte und den Raum verließ. Daniel sah gerade noch, wie sie beim Weggehen ihr privates Handy aus der Tasche zog.

Er konnte sein Glück kaum fassen. War er kurz davor, Elinors Geheimnis zu lüften? Er hastete zum Telefon und forschte nach, woher der Anruf gekommen war.

Es war eine Festnetznummer. Der Teilnehmer hatte der Rückwärtssuche widersprochen. Aber zumindest die Vorwahl konnte Daniel zuordnen. Das Gespräch war aus Cuxhaven gekommen.

Cuxhaven? Über 300 Kilometer entfernt. Verbrachte Elinor dort jeden Monat ein verlängertes Wochenende? Nur zur Erholung? Das erschien Daniel etwas unwahrscheinlich.

Abends zu Hause rief er mit seinem Handy die Cuxhavener Nummer an. „Schneider“, meldete sich eine Frauenstimme.

„Entschuldigung, hab mich verwählt“, sagte Daniel und gab dann im Online-Telefonbuch für Cuxhaven „Schneider“ ein. Die von ihm gewählte Nummer war nicht dabei. Ach ja, dachte Daniel, der Teilnehmer hat der Rückwärtssuche ja widersprochen und will wohl überhaupt nicht gefunden werden.

Wenigstens war Elinor nicht von einem Lover angerufen worden. Oder? Wenn diese Frau Schneider einen Sohn hatte? Oder stand Elinor womöglich auf Frauen?

Diese Spur bringt mich nicht weiter, seufzte Daniel. Trotzdem ging ihm die Stadt Cuxhaven nicht aus dem Kopf. Vor langer Zeit war er einmal dort gewesen. Er erinnerte sich an die wunderschöne Strandpromenade…

Ich fahre hin, entschloss er sich. Dann, wenn auch Elinor vermutlich dort sein wird. Natürlich ist es so gut wie undenkbar, dass wir uns über den Weg laufen. Trotzdem, möglich wäre es.

Bald war Ostern. Wie Max gesagt hatte, nutzte Elinor Feiertage, die auf einen Montag fielen, für ihre monatlichen Cuxhaven-Fahrten. Also würde auch er über Ostern hinfahren, dazu vielleicht noch ein paar Urlaubstage nehmen, falls der Chef einverstanden war. Hoffentlich bekam er irgendwo noch ein Zimmer!

*

Daniel saß auf einer Bank an der Promenade. Er konnte sein Glück noch nicht fassen. Alles hatte geklappt, und nun genoss er die Sonne, die sich im Wattenmeer spiegelte. Dass es um ihn herum von Ostertouristen nur so wimmelte, machte ihm nichts aus. Sie hatten schließlich dasselbe Recht auf Erholung wie er.

Dann blickte er nach rechts, und sein Herz setzte fast aus. Auf der Promenade sah er Elinor. Sie kam näher. Und sie war nicht allein. Vor sich her schob sie einen Spezialrollstuhl, in dem eine schwerstbehinderte junge Frau saß.

Jetzt, nur noch zwei Meter entfernt, fiel ihr Blick auf ihn. Sie hielt an. „Herr Hagen! Wieso sind Sie hier? Spionieren Sie mir etwa nach?“

Daniel schluckte. „Äh… Frau Braun… nein, ich konnte doch gar nicht wissen, dass Sie hier vorbeikommen! Ich mache hier Urlaub!“

Elinor schaute zwischen ihm und der Frau im Rollstuhl hin und her. Dann bat sie, wobei ihre zuvor harte Stimme einen fast flehentlichen Klang annahm: „Sagen Sie bitte niemandem in der Firma und in unserer ganzen Stadt, was Sie hier gesehen haben!“

Überrascht sagte Daniel: „Natürlich nicht, wenn Sie es nicht möchten. Aber ich verstehe nicht ganz… ich finde es großartig, dass Sie sich um die Dame kümmern!“

„Es ist anders, als Sie denken.“ Elinor wies auf die Bank. „Wenn Sie erlauben, setze ich mich und erzähle Ihnen alles. Jetzt haben Sie uns ja eh schon gesehen.“

„Gern!“ Daniel wusste nicht, wie ihm geschah. Mit Elinor auf einer Bank an der Nordsee! Aber unter welchen Umständen! Das Gesicht der Frau im Rollstuhl war völlig regungslos. Elinor redete liebevoll auf sie ein, während sie den Stuhl vor die Bank stellte, mit etwas Abstand zu Daniel. Dann setzte sie sich und begann:

„Marina ist meine Cousine. Sie hat immer hier in Cuxhaven gewohnt und ist ebenso alt wie ich. Früher war sie völlig gesund, turnte, tanzte, war gut in der Schule… Dann kam mein elfter Geburtstag. Da er in die Ferienzeit fiel, hatte ich auch Marina eingeladen. Sie sollte für ein paar Tage zu uns kommen. Bei der Geburtstagsfeier habe ich dann den schlimmsten Fehler meines Lebens gemacht. Aus Jux und Albernheit habe ich Marina von hinten den Stuhl weggezogen, als sie sich setzen wollte, und sie stürzte so unglücklich, dass sie seitdem ein hundertprozentiger Pflegefall ist. Zuerst kümmerten ihre Eltern sich um sie, aber sie starben beide schon bald, und Geschwister hat sie keine. Jetzt wird sie hier in einem Heim sehr gut und liebevoll betreut. Besonders von ihrer persönlichen Betreuerin, einer Frau Schneider. Aber einmal im Monat komme auch ich für jeweils drei Tage zu ihr. Das bin ich ihr schuldig.“

Daniel war so erschüttert, dass er zuerst nichts sagen konnte. Dann jedoch fielen ihm die richtigen Worte ein. „Frau Braun, danke für Ihr Vertrauen, dass Sie mir das erzählt haben. Ich werde es für mich behalten. Aber sehen Sie es bitte als tragischen Unfall an und machen Sie sich keine Vorwürfe mehr. Kinder sind nun einmal so. Deshalb sind sie ja auch erst mit 14 strafmündig. Man könnte höchstens die Erziehungsberechtigten auffordern, vor solchen Verhaltensweisen zu warnen. Ein Freund von mir ist Redakteur bei einer Elternzeitschrift. Soll er dies mal tun, ohne Nennung Ihres Namens und Ihres Wohnorts?“

Elinor war sichtlich gerührt. „Danke für Ihre lieben Worte! Ja, bitten Sie Ihren Freund darum! – Übrigens muss ich Ihnen noch etwas sagen. Ich kündige bei Mertens.“

Was?“ Daniel war wie vor den Kopf geschlagen.

„Ja, ich möchte lieber bei der Firma Pohlmann arbeiten. Kennen Sie die? Auf der Schillerstraße?“ Gott sei Dank, dachte Daniel, zumindest bleibt Elinor in derselben Stadt.

Plötzlich durchzuckte ihn ein Geistesblitz. Er nahm all seinen Mut zusammen und sagte: „Frau Braun, dann sind wir ja bald keine Kollegen mehr. Das ist einerseits schade, hat aber andererseits auch sein Gutes. Ich kann jetzt ganz offen sprechen. Seit dem ersten Augenblick, als ich dich sah, liebe ich dich, Elinor. Könntest du dir vorstellen, meine Frau zu werden?“

Elinor starrte ihn ungläubig an und blickte dann auf den Rollstuhl. Daniel bemerkte dies und setzte eilends hinzu: „Marina würde dann meine Cousine! Wir würden sie immer besuchen! Wenn du möchtest, können wir auch hierhin ziehen!“

Endlich fand Elinor ihre Sprache wieder. Lächelnd sagte sie: „Das wäre nicht nötig, ein Besuch pro Monat genügt. Ja, wenn du tatsächlich willst – dann nenn mich einfach Elli, ja?“

„Und ich bin Danny“, lachte er glücklich, zog mit der einen Hand seine zukünftige Frau und mit der anderen den Rollstuhl mit seiner zukünftigen Cousine an sich, und ihm war, als begänne sogar deren regungsloses Gesicht zu strahlen.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 04.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Ich finde die Geschichte auch sehr schön, Christine. Aber es passiert, dass manche Geschichten übersehen werden. Mir passiert das öfter, dass ich im Nachhinein die Beiträge von anderen „entdecke“. Vor allem, wenn jemand eine ältere Story kommentiert hat. So ging‘s mir mit deiner Osterhasengeschichte und dem Rentier. Ich hatte sie gelesen. Als ich sie liken und kommentieren wollte, fand ich sie nicht wieder , da inzwischen so viele neue Kommentare dazugekommen waren, und hatte auch keinen Anhaltspunkt, wie Titel, Datum oder so. Meine Story „Frau Essig ist sauer…“ blieb ebenfalls völlig ohne Resonanz. Ich hatte sie rausgeschmissen und neu veröffentlicht. Jetzt hat sie plötzlich 13 Gern-gelesen-Herzen. Und ist außerdem in der Hörbar von Tanja Esche zu hören.




geschrieben von Gari Helwer am 04.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Christine! Ich hatte die Geschichte schon einmal gelesen, aber damals durfte ich noch nicht meine Meinung äußern, bin erst seit dem 18. März dabei! Jeder "bewertet" die Geschichten aus seinem eigenen Erleben heraus, das macht es so interessant! Andere Leser, andere Kommentare - oder halt gar keine. Hauptsache es macht uns weiterhin Spaß zu lesen und zu schreiben - jeder nach seiner eigenen Sichtweise... (Schreib, wie du willst!) "Metti" bietet uns doch wirklich ein tolles Podium! Liebe Grüße!




geschrieben von Onivido kurt am 05.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Christine, die Geschichte finde ich sehr gut, bis auf den Schluss mit dem sofortigen Heiratsantrag. Ich meine das haette besser zu einem Maerchen gepasst. Meine Meinung ist aber bei weitem nicht auf literarisches Verstaendnis zurueckzufuehren , sondern auf meinen Geschmasck und ich moechte nicht behaupten, dass er das Maass aller Dinge ist. Guten Montag///Onivido




geschrieben von Christine Todsen am 05.09.2022:

Danke Euch allen! Bei manchen Geschichten kann ich gut verstehen, dass sie kaum Anklang finden. Aber bei dieser vermutete ich, dass sie übersehen worden sein könnte. Hier sind noch 2 andere Geschichten, die m.M.n. den Geschmack vieler treffen und möglicherweise übersehen wurden: „Die Besserwisserin“ (www.kurzgeschichten-stories.de/t_239.aspx, habe sie stilistisch noch etwas verfeinert) und „Das Enkelkind“ (www.kurzgeschichten-stories.de/t_3882.aspx).

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