Veröffentlicht: 02.09.2022. Rubrik: Spannung
Das Urwaldhaus - Teil 1
Kommissar Gert Kleefeld, kurz vor der Pensionierung stehend, und seine Frau Irene genossen ihren Sommerurlaub in dem abgeschiedenen Sauerlanddörfchen Erlental, wo sie noch nie gewesen waren. „Man sollte nicht glauben, dass nur zwei Autostunden von Essen entfernt ein solches Paradies zu finden ist“, schwärmte Irene. „Diese Ruhe, diese Harmonie…“
„Naja, jedenfalls für uns Urlauber. Aber menschliche Abgründe gibt es überall“, stellte ihr Mann nüchtern fest. Dann fragte er: „Welchen Weg sollen wir diesmal zum Bäcker nehmen? Wieder den am Urwaldhaus vorbei?“
„Oh ja!“, strahlte Irene. Das seltsame Grundstück mit dem Gebäude, dem sie den Namen Urwaldhaus gegeben hatte, faszinierte sie immer wieder. Während die übrigen Ein- und Zweifamilienhäuser der Straße alle über gepflegte Vorgärten verfügten, erhob sich vor dem letzten Haus der Reihe ein wahrer Dschungel. Bäume, Sträucher und Gräser hatten sich zu einem schier undurchdringlichen Gewirr verflochten. Nur mit Mühe konnte man das Erdgeschoss dahinter wahrnehmen. Fenster mit vergilbten Gardinen ließen nicht erkennen, ob dort noch jemand wohnte.
Während der Vorgarten und die zur Straße hin liegende Längsseite des Erdgeschosses verwahrlost wirkten, machten der Eingang an der rechten Seite und vor allem die geraniengeschmückten Fenster des oberen Stockwerks einen überraschend gepflegten Eindruck. Am Weg zwischen Gartentor und Eingang, abseits des Pflanzengewirrs, standen zwei Bäume. Sie trugen an ihrer Spitze leuchtend rote Beeren und waren offensichtlich exotischer Herkunft.
Abends in der Pension Wiesengrund konnte Irene ihre Neugierde nicht länger zügeln. Als Gert kurz hinausgegangen war, fragte sie die Wirtin, Frau Koch, nach dem seltsamen Haus mit dem verwilderten Vorgarten. Frau Kochs Reaktion war eigenartig. Sie blickte um sich, und als sie sicher war, dass niemand sie beobachtete, flüsterte sie: „Lassen Sie die Finger davon. Vor Jahren hat mal eine Nachbarin das Haus betreten. Noch am gleichen Tag war sie tot. Vergiftet.“
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„Liebste Irene“, knurrte Gert Kleefeld, „ich bin in Urlaub! Und auch wenn zehn Frauen nach einem Besuch im sogenannten Urwaldhaus tot umfallen – darum sollen sich die Sauerländer Kollegen kümmern, nicht ich. Die können auch mal was tun. In Essen habe ich Mord und Totschlag genug.“
Irene seufzte. Einerseits hatte sie Verständnis für das Ruhebedürfnis ihres Mannes, aber andererseits wünschte sie sich, er möchte das Urwaldhaus-Geheimnis aufklären.
Einige Tage später kam ihr plötzlich eine Idee. Ihre alte Schulfreundin Rosi war vor einem Jahr zu ihrem neuen Lebensabschnittsgefährten Thomas ins Sauerland gezogen und wohnte ganz in der Nähe. Gert hätte sicherlich nichts dagegen, wenn sie Rosi für einen Tag besuchte. Was er nicht wusste: Thomas war Polizist und als solcher auch für Erlental zuständig…
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„Renilein! Wie nett, dass wir uns hier wiedersehen!“ Rosi umarmte Irene herzlich, und diese packte das schlechte Gewissen. In Wirklichkeit war sie ja nicht hauptsächlich wegen der Freundin gekommen, sondern wegen des Urwaldhauses, zu dem Rosis Partner Thomas ihr hoffentlich einiges sagen würde. Durch geschicktes Befragen von Rosi am Telefon hatte sie zuvor herausbekommen, an welchen Tagen Thomas zu Hause war.
Jetzt saßen die drei bei einem gemütlichen Samstags-Brunch auf der Terrasse. Irene beschloss, keine Zeit zu verlieren. „Thomas, in Erlental muss sich vor längerer Zeit etwas Merkwürdiges ereignet haben. Es gibt dort ein Haus, Arnsberger Straße 30, dessen Vorgarten total zugewuchert ist und dessen Erdgeschoss völlig vergammelt aussieht. Das Obergeschoss wirkt dagegen ordentlich –“
„Ach ja, ich weiß, welches Haus du meinst.“
„Ja?“ Irene konnte ihr Glück kaum fassen. „Weißt du dann auch, was mit dieser Nachbarin passiert ist? Sie soll das Haus betreten haben und vergiftet worden sein.“
„Das war ein Unfall.“
„Thomas“, bat Irene aufgeregt, „erzähle mir doch bitte alles, was du darüber weißt. Und über das seltsame Haus. Wer wohnt dort?“
Der Polizist zögerte. Durfte er Irenes Fragen beantworten? Nun ja, beruhigte er sich, im Grunde könnte sie fast alles auch im Archiv der Lokalzeitung nachlesen oder im Internet herausfinden. Er trank seine Kaffeetasse leer und begann:
„Das Haus gehört der alten Frau Neubert. Sie wohnt im Erdgeschoss. Nach dem Tod ihres Mannes vor ungefähr zehn Jahren ließ sie alles so, wie es war. Nichts durfte verändert werden. Der Vorgarten verwilderte immer mehr, die Gardinen wurden kaum noch gewaschen…“
„Und wer kümmert sich um die alte Dame?“, fragte Irene fassungslos.
„Der Sohn und die Schwiegertochter. Sie wohnen im Obergeschoss. Damals, als das mit der Nachbarin passiert war, war ich mit ein paar Kollegen im Haus. Eigentlich ging es ja um den Todesfall. Aber als wir die alte Dame in dem dunklen Wohnzimmer vorfanden – durch die Fenster drang schon damals kaum noch Licht –, haben wir natürlich überprüft, ob sie Hilfe brauchte. Abgesehen von den üblichen Altersbeschwerden war sie jedoch gesund. Sie sagte, dass ihr Sohn und seine Frau sie gut versorgten. Es sei ihr eigener Wille, dass sie sich meist in dem dunklen Zimmer aufhielte und fast nie das Haus verließe, aber bei gutem Wetter säße sie manchmal auf der Terrasse an der Rückseite des Hauses. Kurz und gut, wir konnten nichts machen.“
Irene atmete tief durch. Das war also der Grund für das Aussehen des Hauses und seines Gartens. „Nun noch zu der Sache mit der Nachbarin!“, sagte sie. „Wie war das?“
Nachdem Rosi, die gebannt zugehört hatte, frischen Kaffee in alle drei Tassen gefüllt hatte, ging Thomas zu dem rätselhaften Vergiftungsfall über.
„Es handelte sich um Anne Winter, die Frau des Nachbarn Stefan Winter. Sie kam aus Düsseldorf und hat sich nie so richtig an das Leben in einem Sauerländer Dorf angepasst. Während die anderen den Kontakt mit der seltsamen Familie Neubert möglichst vermieden, hat Anne eines Tages einfach an der Tür des Nachbarhauses geschellt. Als die junge Frau Neubert ihr öffnete, hat Anne wohl gefragt, ob sie nicht mal ihre Schwiegermutter besuchen dürfe. Die würde sich doch bestimmt mal über Abwechslung freuen. Was danach passierte, ist unklar. Jedenfalls rief später Stefan Winter den Notarzt: seine Frau sei nach einem Besuch im Nachbarhaus zusammengebrochen. Als der Arzt eintraf, war Anne schon tot. Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass sie stark giftige Beeren zu sich genommen hatte. Sie stammten von einem der beiden exotischen Bäume am Gartenweg der Neuberts.“
„Nein!“, riefen Irene und Rosi wie aus einem Mund.
„Selbstverständlich dachte jeder im Dorf zunächst an ein Tötungsdelikt. Aber bald wurden wir skeptisch. Es gab kein Motiv. Außerdem sind alle drei Neuberts ziemlich klein. Sie hätten die Beeren gar nicht vom Baum pflücken können, höchstens mit einer Leiter. Anne dagegen war hochgewachsen. Mit ausgestrecktem Arm muss es ihr möglich gewesen sein, nach den Beeren zu greifen. Daher kamen wir schließlich zu dem Schluss, dass es ein Unfall war. Die Großstädterin, die keine Beerenart von der anderen unterscheiden konnte und womöglich gar nicht wusste, dass es auch giftige gibt, hatte auf dem Nachhauseweg einige der leuchtend roten Früchte stibitzt und ihre Dummheit mit dem Leben bezahlt.“
„Ja“, murmelte Rosi betroffen, „so wird es gewesen sein.“ Irene schwieg.
Als sie zwei Minuten später immer noch nichts gesagt hatte, wurde Rosi unruhig. „Reni? Ist was?“
Aus tiefem Nachdenken aufgeschreckt, wandte Irene sich an Thomas: „Ist Stefan Winter genauso groß, wie Anne es war?“
„Ja, ich glaube sogar, noch ein bisschen größer.“
„Dann könnte doch auch Stefan die Beeren gepflückt haben, um seine Frau umzubringen.“
Teil 2 folgt