Veröffentlicht: 09.08.2022. Rubrik: Nachdenkliches
Ratten der Lüfte
Die alleinerziehende Charlotte lebte mit ihrer zehnjährigen Tochter Mila im Ruhrgebiet und arbeitete in einer Bibliothek. Heute hatte sie einen Urlaubstag genommen, weil ihre Freundin Marieke aus Nordfriesland in Dortmund zu tun hatte und sie besuchen wollte.
„Was ist denn das?“, fragte Marieke, als die beiden auf den Balkon traten, während Mila in ihrem Zimmer Hausaufgaben machte. „Warum hängt dort ein Netz?“
„Zur Taubenabwehr! Früher, als das Netz noch nicht da hing, war unser Balkon die Gemeinschaftstoilette aller Stadttauben der Straße.“
Marieke musste über die drollige Formulierung lachen, sagte dann jedoch: „Du wirst es nicht glauben, aber… ich finde eure Tauben schön! Bei uns im Dorf an der Küste gibt es diese Art ja nicht. Ist dir schon aufgefallen, dass jede ihre ganz eigene Färbung hat? Und sie gucken so lieb, finde ich, und ihr Gurren klingt so melodisch –“
Bis jetzt hatte Charlotte stumm zugehört, aber jetzt konnte sie nicht mehr an sich halten. „Marieke! Diese Biester, die alles verdrecken, sind gefährlich! Es sind Ratten der Lüfte!“
Verwundert entgegnete die Nordfriesin: „Ratten der Lüfte? So nennst du die Tauben? Komisch, an der See nennen viele die Silbermöwen so.“
Jetzt war die Ruhrgebietlerin sprachlos. „Die Silbermöwen? Das sind doch wunderschöne Vögel! Für mich der Inbegriff von Meer, Weite, Freiheit! Wie heißt es doch im Nordseewellen-Lied? ‚Wo die Möwen schreien schrill im Sturmgebraus‘ –“
„Ja“, unterbrach Marieke sie, „dieses Geschrei kann wohl nur ein Dichter schön finden. Mich nervt es kolossal. Außerdem verdrecken auch sie alles, und zwar noch schlimmer als eure Tauben, weil sie ja größer sind. Und sie werden immer frecher, klauen den Touristen das Essen aus der Hand…“
Charlotte war nachdenklich geworden. „Ist es nicht merkwürdig?“, fragte sie. „Jeder findet das, was der andere hat, schöner.“
„Tja, so wird es immer sein“, meinte Marieke, „sowohl Möwen als auch Tauben werden von den einen geliebt und von den anderen als Ratten der Lüfte bezeichnet. Einig sind sich alle wohl nur darin, dass die Ratten der Erde, also die vierbeinigen, auf jeden Fall schädlich sind.“
Die Balkontür wurde von innen geöffnet. „Mama“, fragte die zehnjährige Mila eifrig, „habt ihr gerade über Ratten gesprochen? Die kleine Ratte von der Anna ist so süß, darf ich auch eine haben?“