Veröffentlicht: 19.07.2022. Rubrik: Menschliches
Exit Eden
Exit Eden
Endlich! Der letzte Einsatz ist abgearbeitet und es wird Zeit, den Papierkrieg zu beginnen. Die Akten zu öffnen, ist mir immer ein Angang, aber sie läuten zumindest den Feierabend ein oder besser gesagt, die letzten Minuten der Schicht beginnen.
Ich fahre den Rechner hoch, greife noch schnell die Tasse Kaffee ab, die mir eine Kollegin hinhält und setze mich vor die abgegriffene Tastatur.
Eine gepflegte Hassliebe vereint mich mit den Akten. Bürokraten hätten ihre helle Freude, ich nicht so, aber es gibt ja noch immer nachgeordnete Institutionen, die gerne mal einen Blick in den Scheiß hier werfen. Ich für meinen Teil würde gerne darauf verzichten, aber immerhin ist es immer noch besser als den nächsten Schläger auf der Straße zu treffen, die inzwischen einen nicht unerheblichen Teil des täglichen Dienstes ausmachen.
Oh, natürlich gibt es dann noch die Rennfahrer, Serienentführer, das Drogenklientel und nicht zu vergessen, die Alltagspechvögel. Über Mangel an Kundschaft und Kundenakquisition können wir uns nicht beschweren.
Ist es verwerflich, wenn ich so denke?
Jeden Tag habe ich dutzende Begegnungen mit den “Helden” der Straßen, die erst auftreten wie ein Gott, um dann später vor dem Einsatzfahrzeug zu sitzen und “Der da hat mich geschlagen” zu heulen.
Ist das die “Straße”, von der die Gangs reden?
“Respektiere die Straße, dann respektiert die Straße Dich” hat mir ein OG mal gesagt. Das ist jetzt zwei Jahre her und was ist davon geblieben?
Zugegeben, mit der Schiene bin ich bisher gut gefahren, aber die “Straße” hat sich verändert. Es gibt keine Gangsterehre mehr, ein gesprochenes Wort ist die Luft nicht mehr wert, die gebraucht wurde, um es auszusprechen.
Die Straße knüppelt Feldarbeiter nieder und zieht dort noch den letzten Cent aus der Tasche. Die Bad-Boys verlassen gelangweilt ihre Hood, überfallen ein Café und stehlen irgendwelche Deko aus dem Regal und Kleingeld aus den Taschen der Besucher. Wahrlich kriminelle Energie.
“Fremdschämen” ist der Ausdruck, der solch einen Auftritt treffend beschreibt.
Während ich die üblichen Phrasen in die Akten schreibe, überlege ich mir, wie wohl unser Nachwuchs darüber denkt.
Regelmäßig stehen Neueinstellungen in der Tür, enthusiastisch und der Tatendrang dringt ihnen aus allen Poren. Damals war ich wie sie, mit dem Gedanken eines “Helden des Alltags”, der auf dem Rücken eines Hengstes und mit Umhang um die Schultern die Szenerie betritt, während die Massen jubeln und feiern.
Heute weiß ich es besser, heute bin ich froh, wenn ich nicht ausgelacht oder bedroht werde.
Mitunter überlege ich, es ihnen zu sagen, ihnen gleich die Illusionen zu nehmen, wohl wissend, eventuell eine Karriere im Keim zu ersticken.
Das Recht habe ich aber nicht und so warte ich auf den Moment, wo man schon aus wenigen Schritten Entfernung sehen kann, wie sie irgendwann verstehen, wie es hier ist und wo die Bevölkerung uns sieht. Das ist dann der Moment, wo dann entweder wieder eine Stelle zu besetzen ist oder wo die Akzeptanz die Überhand gewinnt.
Ich schließe die erste Akte, beginne die Nächste. Irgendwo knallt eine Tür und ein “Kunde” pöbelt lauthals eine Kollegin an, die kurz später laut fluchend an mir vorbeiläuft.
“Willkommen in meiner Welt” denke ich mir und tippe weiter.
Wann ich meinen Traum verloren habe? Da gibt es tatsächlich keinen festen Zeitpunkt. Erkenntnis kommt fließend und verändert ein Bild schleichend, bevor man erst viel später verwundert feststellt, dass alles anders ist.
Mache ich meinen Job deswegen schlecht? Muss ich mit eiserner Überzeugung und innerer Freude meinen Dienst beginnen, um korrekt zu handeln? Muss ich emotional dabei sein?
Ich bin der Erste, der im Fahrzeug sitzt, der alles liegen lässt, um Bevölkerung und Kollegen zu helfen. Der Erste, der vor Ort den Hals riskiert und nicht fragt warum. Wer bist Du, der mir sagt, dass ich hier falsch bin? Denkst Du meine Gedanken, kannst Du mein Tun beurteilen?
Rede darüber oder such Dir Hilfe!
Lass mich kurz lachen! Rollt ein Fass Benzin freiwillig in ein Feuer? Läufst Du freiwillig in ein Messer? Natürlich gibt es für uns die Gelegenheit, sich professionelle Hilfe zu suchen, aber mal ehrlich, kann ich mir das leisten? Diese Insel ist ein Treppenhaus und irgendwer hat immer ein Ohr an der Tür.
Schau Dich um, hier ist jedem geholfen, denn jeder ist hier sich selbst der Nächste. Faszinierend, wie eine Kultur der Selbstbeweihräucherung funktioniert, in der Zweifler gerne mal mit einem Messer oder einer Kugel überzeugt werden. Aktive Selbstzerstörung kleiner Gruppen ist eine gewollte Eigenschaft, um diese Gesellschaft am Leben zu halten.
Schockiert? Wohl eher nicht. Du denkst nicht darüber nach, wenn Du Dein Telefon zückst, um einen Notruf abzusetzen. Wichtig ist, dass wir uns ohne zu fragen auf den Weg machen, um Dir zu helfen. Was uns antreibt, ist schlussendlich unsere eigene Entscheidung und für Außenstehende nicht unbedingt nachvollziehbar.
Nicht wenige wollen uns überhaupt sehen, hassen unsere Uniform und wofür wir stehen, aber wem einmal ein dickes Fell gewachsen ist, stört sich daran einfach nicht mehr.
Ich schließe die Akte und stelle überrascht fest, dass ich durch bin.
Auf dem Weg zur Umkleide melde ich mich ab, gehe schnell duschen und mache mich auf den Weg nach Hause.
Ich ignoriere die Sirenen vor der Tür und sehe zu, dass ich hier schnell rauskomme. Der Weg führt mich nicht nach Hause, ich benötige Gesellschaft. Allein will ich den Tag dann doch nicht ausklingen lassen. Wenn man den ganzen Tag von Gewalt, Blut und Geschrei umgeben ist, darf der Abend etwas freundlicher sein.
Sie lebt in einem kleinen Apartment in der Nähe der Vespucci Kanäle und beweist damit guten Geschmack, auch wenn das Viertel hier nicht unbedingt mit Unschuld glänzt. Schon unten an der Tür steigt der Puls und ich würde lügen, wenn ich nicht von Erwartung spreche, die eine ordentliche Portion Gier in sich trägt. Wichtig ist, dass man es nicht zeigt!
Ein gewisses Maß an Würde ist nicht unwichtig! Was würden die Kollegen sagen?
Was würde sie sagen, wenn ich sabbernd in der Tür stehe, vor Verlangen grunzend? Nein, das kann ich mir nun wirklich nicht erlauben.
Ich parke in einer versteckten Gasse einen Block weiter, Paranoia muss nicht unbedingt immer negativ sein, so lassen sich auf jeden Fall unliebsame Zufälle vermeiden.
Hinter mir schließt sich die Haustür und die Stille im Treppenhaus lässt mich meinen Herzschlag hören. Ach, schau an, auch meine Pumpe freut sich hier zu sein.
Der Aufzug muss nicht sein und ich laufe die Treppen hoch, um das Quietschen von dem antiken Lift zu vermeiden.
Vor dem Apartment zögere ich kurz, um meinen Puls zu beruhigen, öffne die Tür und schlüpfe hinein. Sie steht erwartungsvoll neben dem Tisch und schaut mich an.
Alle Beherrschung fällt von mir ab. Ich stürze auf sie zu, packe Ihren Hals und mit einem vernehmlichen knacken fällt aller Druck von mir ab.
Ich trinke direkt aus der Flasche, scheiß auf die Würde, scheiß auf Zurückhaltung.
Der Treibstoff schießt in den Körper, beruhigt, betäubt und füllt den Tank für den nächsten Tag. Für die nächste Pöbelei, für das nächste Blut, für das nächste Geschrei.
Der Tanz auf der Klinge fordert seinen Tribut, aber auch das interessiert Dich nicht, wenn Du Dein Telefon zückst und wieder über den Notruf um Hilfe rufst.