Veröffentlicht: 14.05.2022. Rubrik: Unsortiert
Narben, die bleiben
Jan führt Michael durch die Schar der Gäste, die zur Silvesterparty gekommen sind. Viele stellt er ihm viele vor, manche nicht. Inmitten einer Gruppe, die sich angeregt unterhält, tippt er einer Frau leicht an die Schulter.
„Grit, darf ich dir Michael Wessler vorstellen? Er hat sich als Chirurg auf die Stelle innerhalb des Projekts beworben.“ Die Frau dreht sich zu Jan. Der Ärmel ihres Kleides verrutscht leicht und gibt den Blick auf Brandnarben frei. Sie lächelt Jan an und schaut dann zu Michael. Er sieht in das strahlende Blau zweier Augen, deren Blick er nie vergessen wird. Sorgsam überschminkt, erkennt er eine flächige Narbe auf ihrer linken Wange.
„Oh, Jan, schön, dass du uns miteinander bekannt machst.“ Eine melodische Stimme, deren Klang er lange nicht gehört hat. Grit reicht Michael die Hand, ein fester Händedruck, der neutral bleibt. Kein Zeichen des Wiedererkennens, außer einem kurzen Flattern ihrer Augenlider.
„Michael, das ist Grit Gerharts, meine Praxispartnerin und Leiterin der Forschungsgruppe.“
„Hallo, erfreut“, mehr bringt Michael nicht heraus. Er hatte sie seit dem unrühmlichen Ende der inoffiziellen Abiturfeier nicht mehr gesehen.
„Ich kann mir keine Bessere vorstellen.“ Jan lächelt Grit glücklich an. „Grit, ich komme gleich mit Getränken zurück.“
Zu Michael gewendet, den er damit auch weiterzieht in die Runde der übrigen Gäste: „Ich stelle dir noch den größten Unterstützer und Förderer unserer Forschungen vor.“
Dr. Braun verwickelt Michael in ein Gespräch, dem er nur mit Mühe folgen kann. Er sieht, wie Jan zu Grit zurückgeht, ihr ein Getränk reicht. Andere Gäste gesellen sich dazu, die Gruppe scheint fröhlich zu sein. Irgendwann trifft ihn Grits Blick aus der Ferne. Die Erinnerungen an den Abend der Abiturfeier kommen wieder hoch.
Der Abend zieht sich für Michael dahin. Viel später als am Büfett weniger los ist, beschließen Michaels Tischnachbarn sich noch etwas zu Essen zu holen. Er tut es ihnen gleich.
„Frau Dr. Gerharts, schön sie heute Abend hier zu treffen“, sagte jemand neben ihm. „Ich habe ihren Aufsatz über Verbrennungsopfer in der Fachzeitung gelesen. Ihre Ausführungen zur Frühbehandlung von Brandverletzungen, um Narbenbildung zu vermeiden, sind beachtlich.“
„Danke. Ja, wir forschen auf dem Gebiet sehr intensiv“, erwidert Grit. „Je früher Verbrennungsopfer behandelt werden, um so größer die Chance, die Vernarbung zu reduzieren.“
„Bemerkenswert, wie sie den Heilungsprozess des Mädchens beschreiben, dass in einem Ferienlager in ein Lagerfeuer gestolpert ist.“
„Es wurde rechtzeitig aus den Flammen gezogen und jemand riss ihr geistesgegenwärtig die brennende Kleidung vom Leib.“ Grit gibt diese Erklärungen sehr ruhig ab. Der Gesprächspartner stellt noch weitere Fragen, die Grit alle beantwortet.
„Wissen sie“, sagt die irgendwann: „Nicht jeder hat so viel Glück. Manchmal laufen die Menschen weg, retten nur ihre eigene Haut. Dabei kommt es immer auf die ersten Augenblicke an, wenn das Feuer nur die Kleidung erfasst hat und noch nicht bis auf die Haut vorgedrungen ist.“ Nun blickt sie Michael direkt in die Augen. „Und wenn man Opfern aus Feigheit oder weil man zu angetrunken ist, nicht hilft, und sie in den brennenden Kleidern stecken lässt, dann bleiben Narben, die selbst durch viele Operationen nicht zu bewältigen sind.“
Michael schluckt und schaut betreten zu Boden. Es hatte ein großes Lagerfeuer gegeben auf dem Grillplatz, wo sie im Anschluss an die Abiturfeier noch feiern durften. Irgendwann hatten sie eine brennende Vogelscheuche aufgestellt, die das Ende der Schulzeit darstellen sollte. Sie waren herumgetanzt, viele schon ein wenig mehr, wie nur angetrunken. In den Momenten flaute der Wind auf, trieb feine Sprühfunken vor sich her, genau auf die Gruppe zu. Niemand achtete darauf. Irgendwie verfingen sich Funken in Grits Haaren, sprangen auf ihre Kleidung über. Erst fiel das nicht auf, dann bemerkte irgendjemand, dass Grits Jackenärmel brannte und anstatt zu reagieren, hörte Grit nur: „Schnell weg, Grit brennt.“ In dem Moment schaute Grit Michael an. Er sah Entsetzen in ihrem Blick und einen stummen Hilferuf. So nah, wie er zu ihr stand, hätte er ihr die Jacke vom Körper reißen können.
„Michael, hilf mir. Der Ärmel hat Feuer gefangen“, hörte er Grits Stimme. Seine angetrunkenen Freunde rannten ins Dunkel davon, riefen: „Michael, kommst du? Nur weg von hier, es brennt.“ Und er war mitgelaufen, angetrunken wie er auch war.
Andere eilten dann wohl zu Hilfe, er hatte das nie erfahren wollen. Er schämte sich und fragte nie mehr nach. Die Scham blieb und Grit heute hier zu sehen, beschwor all diese Gefühle wieder herauf.
Unter einem Vorwand verabschiedet er sich und verlässt die Silvesterparty weit vor Mitternacht.