Veröffentlicht: 26.04.2022. Rubrik: Menschliches
In diesem Augenblick las sie die Worte wieder und wieder
Lisa saß am Tisch, gegenüber das Bett und dazwischen der Blick aus der Balkontür in den Grünbereich der Rehaanlage. Draußen schien ein Vogel sein Lied zu üben, immer und immer wieder die gleiche Tonfolge. Ob er fröhlich war? Ob er das Zwitschern auch erst wieder lernen musste? Oder übte er nur bekannte Tonfolgen, um noch virtuoser zu werden?
In diesem Augenblick las sie die Worte wieder und wieder. Ob sie jemals wieder so flüssig würde lesen können, wie der Vogel seine Töne trällerte? Ihr fiel es schwer, sich auf die Worte zu konzentrieren. Immer wieder verschwammen die Worte vor ihren Augen, schienen sich in ihrem Kopf zu verflüchtigen.
Lisa stand auf, um sich etwas zu Trinken zu holen. Sie sollte sich möglichst viel bewegen. Das rechte Bein setzte sie nach wie vor nur mühsam auf. Auch der rechte Arm entzog sich immer noch viel zu oft ihrer Kontrolle. Sie verließ das Zimmer und lief vor bis zum Aufenthaltsraum, wo immer heißes Wasser auf die Patienten wartete. Der Gang war lang für sie, weil ihr Zimmer fast am Ende lag. Mittlerweile ging sie ihn schon wieder recht zügig entlang. Vor dem Wasserkocher stellte sie die Tasse ab, kruschelte einen Teebeutel aus der Schublade, in der sich der Vorrat an Teesorten befand. Wie viele Tassen Fencheltee hatte sie getrunken, seit sie hier war? Unzählige. Mit der vollen Tasse in der rechten Hand machte sie sich auf den Rückweg zu ihrem Zimmer. Das Tragen der Tasse in der rechten Hand ging gut; sie verschüttete nichts mehr, wie am Anfang noch häufig geschehen.