Veröffentlicht: 04.05.2022. Rubrik: Satirisches
Eine neue (Un-) Sitte
Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen: Es macht sich eine neue Angewohnheit breit. Zeitungsartikel, vor allem solche, in denen sich ein oder mehrere Politiker, Intellektuelle, Künstler, Autoren bzw. aus den Medien bekannte Menschen zu einem Sachverhalt mit ihrer eigenen Meinung geäußert haben, vorzugsweise im Interview, enden in letzter Zeit oft mit dem Hinweis, was ein (im Artikel namenloser) Nutzer in den sozialen Medien von sich gegeben hat. Ich finde das äußerst raffiniert. So umgeht man als Journalist, selbst etwas gesagt zu haben, was man als eigene Meinung kennzeichnen müsse. Praktisch, wenn ein solcher Nutzer genau das schreibt, was man mit einem Paukenschlag unter den Artikel setzen kann. Nehmen wir ein Beispiel: A (wahlweise Politiker, Intellektueller, Künstler oder Autor und auf jeden Fall aus den Medien bekannt, sonst könnte der namenlose Nutzer denjenigen nicht kennen, nicht wahr) wird von Journalist B zu einem Sachverhalt befragt, z. B. was er denn zu bestimmten Waffenlieferungen sagen würde. Oder zu dem offenen Brief von Alice Schwarzer und den anderen Unterzeichnern an den Bundeskanzler. Oder (wahlweise) zu der letzten Folge von Germanys Top-Model. Es spielt keine Rolle, um was es eigentlich geht. Hauptsache, ein namenloser Nutzer hat in den sozialen Medien seinen Senf dazu gegeben, der als Schlusssatz verwendet werden kann und, so möchte man schlussfolgern, der eigenen Meinung des Journalisten entspricht. Denn, wenn dem nicht so wäre, warum schreibt er dann nicht zwei konträre Meinungen verschiedener Nutzer am Schluss des Artikels? Oder, warum ist es überhaupt nötig, die Meinung namenloser Nutzer in den sozialen Medien zu bemühen?
Gestern schrieb z. B. ein Nutzer in den sozialen Medien: „Qualitätsjournalismus sieht anders aus."