Veröffentlicht: 01.05.2022. Rubrik: Unsortiert
Die Hexe
Es mochte wohl elf Uhr sein. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Elisabeth setzte sich auf und sah sich verwirrt um. Hatte sie etwa hier draußen auf der Lichtung im Wald geschlafen und dann auch noch so lange? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhin gekommen war. Erst nach ein paar Minuten des richtig Wachwerdens wurde ihr bewusst, dass sie ein fast bodenlanges Kleid trug, das sie überhaupt nicht kannte und barfuß war. Aber gestern hatte sie doch Jeans und Bluse getragen? Und Schuhe? Als sie einen Blick auf ihre Armbanduhr werfen wollte, stellte sie fest, dass diese verschwunden war. Aber an das Datum erinnerte sie sich jetzt. Es war der 1. Mai. Hatte ihr jemand einen blöden Streich zur Hexennacht gespielt? Ihre Freundinnen? Sicher nicht. Vielleicht Andreas? Aber nach erst drei Wochen Beziehung würde er das nicht wagen.
„Kommt raus!“, sagte sie laut. „Das war eine saublöde Idee!“
Niemand antwortete. Sie stand auf und fuhr sich mit den Fingern durch die langen schwarzen Haare, die ihr bis zur Hüfte fielen. ‚Wahrscheinlich sehe ich aus wie eine Hexe', dachte sie. ‚Was ist hier los?‘ Sie lief ein Stück weit in den Wald und sah zu den riesigen Baumkronen hinauf, die den Himmel verdeckten und bedrohlich auf sie wirkten. ‚Du hast zuviel Fantasie!‘, schalt sie sich selbst. ‚Als ob Bäume dir etwas tun könnten.‘ Sie lief wieder zurück auf die Lichtung und von dort aus ein Stück in die anderen Richtung. Keine Menschenseele war in Sicht, selbst Vogelgezwitscher war nicht zu hören. Ihre nackten Füße fühlten sich kalt an.
Wie auch immer sie hierhin gekommen sein mochte, sie wollte auf der Stelle weg. Eine Handtasche war nirgends zu sehen, und das Kleid hatte keine Einstecktaschen, in denen sich Schlüssel oder Portemonnaie finden konnten. Sie versuchte, sich zu erinnern, ohne Erfolg. Die letzten Stunden, der ganze gestrige Tag lag im Dunkeln. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, je zuvor auf dieser Lichtung gewesen zu sein.
‚Immerhin weiß ich noch, wie ich heiße und wo ich wohne', dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. ‚Und wie komme ich nach Hause?'
In der Nähe musste es eine Straße geben. Anstatt unnütze Überlegungen anzustellen, sollte sie sich schleunigst dahin aufmachen. Aber in welche Richtung sollte sie sich halten? „Nach Norden“, entschied sie, „ein Kompass zeigt immer nach Norden.“ Sie hatte Glück. Nach einer guten Stunde wurde es heller, der Wald teilte sich und vor ihr kam eine Straße in Sicht. Sie seufzte erleichtert auf. An der Straße würden Hinweisschilder angebracht sein. Ein beißender Geruch wie von Feuer, mit etwas Undefinierbarem gemischt, stieg ihr in die Nase. In der Ferne sah sie Rauchschwaden aufsteigen. Menschliche Behausungen waren also nicht so weit weg. Sie beeilte sich, in die Nähe der Straße zu kommen. Vielleicht konnte sie ein Auto anhalten.
Auf der Straße kam eine Kutsche in Sicht, die von zwei Pferden gezogen wurde. Elisabeth fiel die seltsame Kleidung des Kutschers auf. An einer Kutsche war nichts Ungewöhnliches, in dem Dorf, in dem sie lebte, gab es ein Gestüt. Pferde und Kutschen waren dort genau so oft zu sehen wie Autos, warum also nicht auch hier. Aber die Kleidung des Kutschers war alles andere als üblich. Er trug ein Wams und eine gepuffte Hose. ‚Sicher ein Mittelalterfest in der Gegend‘, dachte sie. Wahrscheinlich trug sie auch deswegen dieses lange Kleid. Natürlich, das war die Erklärung! Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Blieb noch die Frage, wer sie so ausstaffiert hatte und warum sie nichts mehr davon wusste.
Sie winkte dem Kutscher, doch dieser fuhr ungerührt weiter, als habe er sie gar nicht gesehen. Enttäuscht machte sie sich wieder zu Fuß auf den Weg, in Richtung der Rauchschwaden. An der Straße war kein einziges Hinweisschild zu sehen. Schließlich erreichte Elisabeth eine Art Marktplatz, auf dem sich viele Menschen tummelten. Auffällig war, dass alle Frauen ähnlich gekleidet waren wie sie selbst.
„Entschuldigung“, sprach Elisabeth eine ältere Frau an. „Ich habe mich verlaufen. In welcher Stadt bin ich hier?“
Die Frau starrte sie entsetzt an. „Seid Ihr noch ganz bei Trost? Hannes hat euch weggebracht. Nun kommt Ihr freiwillig zurück? Wollt Ihr brennen?“
„Was?“ Elisabeth verstand kein Wort. Wer war Hannes, und warum sollte er sie weggebracht haben? Sie kannte keinen Hannes.
„Elsbeth!“ Die Frau packte sie am Arm. „Verschwindet! Wenn sie mich mit euch sehen, brenne ich auch!“ Sie stieß Elisabeth grob von sich weg. „Lauft, ehe jemand merkt, dass Ihr hier seid!“
„Man kann es mit dem Mittelalterfest auch übertreiben“ murmelte Elisabeth, aber die Alte hatte ihr doch genügend Angst eingeflößt, um sich so schnell wie möglich davon zu stehlen. Sie kam nicht weit. Wieder wurde sie mit festem Griff am Arm gepackt. „Ihr seid verhaftet!“, dröhnte eine Männerstimme. Wütend versuchte Elisabeth, ihn abzuschütteln. Allmählich reichte es. „Lasst mich los!“, kreischte sie. „Ich habe auf so etwas keine Lust! Ihr hättet mich zumindest mal fragen können, ob ich bei eurem Mittelalterfest mitmache! Das wird mir unheimlich!“ Sie hatte noch nicht ausgezetert, als sie einen Schlag auf den Kopf verspürte und alles schwarz vor ihren Augen wurde.
„Ich glaube, sie kommt zu sich.“
Die Stimme kam aus weiter Ferne und ähnelte der von Andreas. Elisabeth schlug zögernd die Augen auf. Andreas beugte sich mit besorgtem Gesicht über sie und berührte sie sanft an der Stirn. „Ist alles in Ordnung, Darling? Weißt du, welcher Tag heute ist?“ Neben ihm blickte sie in die Gesichter ihrer Freundinnen Doris und Amalia und deren Freunde. Die Namen hatte sie vergessen. Sie hatte sie erst gestern kennengelernt. Richtig, gestern waren sie ja alle zusammen zum Zelten aufgebrochen.
„Der 1. Mai“, sagte Elisabeth stöhnend und griff sich mit der Hand an den brummenden Schädel. „Ich hoffe, 2011 und nicht im Mittelalter. Dieses scheiß Fest hat mir gereicht.“
Andreas lachte. „Natürlich 2011. Welches Fest?“.
„Hier in der Nähe. Ach egal“, sie versuchte, sich aufzurichten und sank stöhnend zurück. Wie beim ersten Erwachen heute lag sie auf einer Lichtung im Wald, mit dem Unterschied, dass auf der Lichtung drei kleine Zelte aufgebaut waren.
„Sag mal, hast du etwas Komisches gegessen? Hannes meinte, du hättest vielleicht aus Versehen Pilze erwischt, die high machen.“
„Hannes?“
„Mein Freund“, mischte Doris sich ein. „Du hast ihn doch gestern kennengelernt.“
„Ich weiß nicht mehr viel von gestern“, murmelte Elisabeth. „Ich kann mich nicht erinnern, was ich gegessen habe.“
„Ist doch auch egal. Hauptsache, dir geht es wieder gut. Oder jedenfalls besser“, sagte Andreas. „ich war kurz davor, einen Arzt zu rufen.“
„Wie lange habe ich denn hier gelegen?“
„Naja, gestern waren wir natürlich alle nicht mehr ganz nüchtern. Gegen zwei wollten wir schlafen gehen, aber du musstest noch mal kurz in den Wald. Als du zurückkamst, hast du kein Wort gesagt, dich nur ausgestreckt und bist direkt eingeschlafen. Heute Morgen warst du nicht mehr im Zelt, als ich aufgewacht bin. Ich hab nachgeschaut und dich hier gefunden. Wir wollten bisschen abwarten, dachten, du hättest vielleicht nur zu viel gebechert und es nicht mehr zurück ins Zelt geschafft. Aber dann wurde es uns doch unheimlich.“
„Ja“, ergänzte Amalie, „wenn du jetzt nicht aufgewacht wärst, hätten wir den Rettungswagen alarmiert."
Ihr Freund, dessen Name Elisabeth nicht mehr einfallen wollte, stand neben ihr und hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Wie der Kutscher aus ihrem Traum, der sie übersehen hatte. War es ein Traum gewesen?
„So, du ruhst dich noch ein bisschen aus“, bestimmte Andreas. „Ich schlage unser Zelt ab und fahre dich dann nach Hause.“
„Den Rest machen wir“, erklang eine Stimme. Elisabeth kannte sie nicht. Wahrscheinlich die des bis dahin sprachlosen Freundes von Amalia.
„Okay, danke“, murmelte sie.
Zwei Stunden später verabschiedeten sie sich von den anderen, und Andreas fuhr sie nach Hause. Im Auto fiel Elisabeth etwas ein. „Meine Armbanduhr ist weg.“
Andreas warf ihr einen überraschten Blick zu. „Du hast gar keine getragen, das wäre mir aufgefallen. Sie ist sicher bei dir zu Hause.“
Aber die Armbanduhr fand sich auch zu Hause nicht.
Eine Woche später fragte Elisabeth auf dem Fundbüro nach. Zu ihrer freudigen Überraschung überreichte ihr der Beamte dort die Armbanduhr schon nach wenigen Minuten.
„Vielen Dank!“ Erleichtert verließ Elisabeth das Fundbüro und blieb unschlüssig davor stehen. Sie hatte noch Zeit, sollte sie noch ein wenig bummeln gehen? Während sie überlegte, fiel ihr ein Schild an der Hauswand des Rathauses auf. Es war offensichtlich eine Gedenktafel. Sie las:
„Zum mahnenden Gedenken an unschuldige Frauen und Männer, die im Mittelalter als Hexen verfolgt, gefoltert und getötet wurden.“
Sie stand eine Weile davor. Dann machte sie sich auf den Weg in die Stadt.