geschrieben von As'a hel.
Veröffentlicht: 14.04.2022. Rubrik: Unsortiert
Freiheit der Kunst
Chef: Danke fürs Kommen. Wir müssen über dein neues Buch sprechen. Wie soll ich sagen, es ist nicht das, was wir erwartet haben. Wir haben Kurzgeschichten erwartet, stattdessen schreibst du recht direkt über Glaubensdinge.
Schriftsteller: Was ist eine Kurzgeschichte?
C: ...Also,...na, jedenfalls nicht das, was du jetzt schreibst.
S: Du magst das Thema nicht.
C: Du weißt, dass ich Atheist bin, aber darum gehts nicht. Die Texte deiner vorigen Bücher waren tiefgründig, mit verborgenem Witz zwischen den Zeilen. Aber die Texte deines neuen Buches sind zu direkt.
S: Dich stört, dass ich über ein Nischenthema schreibe.
C: Nein, das Problem ist dein neuer Stil.
S: Ein Stil, der nicht mehrheitstauglich ist.
C: Hör mal, einige deiner Autoren-Kollegen haben sich beschwert, sie mögen weder dein Thema noch deinen Stil.
S: Kollegen, die über Mehrheitsthemen schreiben.
C: Das tut nichts zur Sache, du bringst Unruhe in ein bewährtes System. Schreib doch einfach wie früher.
S: Ich bin Künstler. Ich erschaffe, was aus mir sprudelt. Ich schreibe nicht, um zu gefallen.
C: Es tut mir leid, ich kann dein Buch nicht veröffentlichen. Ich bin lange genug Verlagschef, um zu wissen, dass dein Buch nur Probleme machen wird.
S: Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.
Vor Jahren hatte ich ein Profil auf einer Internetseite, wo man allerlei Textmaterialien unter dem Sammelbegriff Kurzgeschichten veröffentlichen kann. Ich entschied mich für diese Seite, weil ich dort einen Geist der Freiheit spürte, den man heute nur noch selten findet.
Der dortige Webmaster hasst Konformität, was ich sehr sympathisch finde. Außerdem ist er ein feinfühliger und kluger Mann, der viel Erfahrung mit dem Schreiben hat. Mit der Zeit änderten sich meine dortigen Texte und mein Profil wurde einfach gelöscht. Ich habe die Hintergründe nie erfahren, doch anscheinend wurde dieser Webmaster durch meine Stiländerung in eine Zwangslage gebracht. Er musste sich entscheiden zwischen seiner Liebe zur freien Kunst und dem Bild, das er von sich selbst hat und das andere von ihm haben.
Er wollte nicht gemeinsam neue Wege mit dem Künstler gehen, sondern er entschied sich für Selbstgefälligkeit und Applaus. Diese Seite hätte eine Oase der Kreativität in der geistigen Internetwüste sein können, und obwohl der Webmaster den Wert meiner Arbeit erahnte, entschied er sich für den einfachen, breiten Weg der Gefälligkeit und gegen seine Liebe zu Freiheit und Kunst.
Heute ist diese Internetseite wie die zahllosen anderen, wo eine Handvoll Autoren-Sheriffs mit ihren Mainstreammeinungen die anderen Autoren niedertrampeln, mit Kommentaren wie: Diesen religiösen Mist braucht niemand!, oder: Das ist keine Kurzgeschichte und hat hier nichts verloren! Nischenthemen werden dort gnadenlos hingerichtet mit Totschlagargumenten wie: Wir müssen unsere Kinder schützen!
Damals lernte ich, was indirekte Zensur ist: Autoren, die nicht schreiben, um zu gefallen, zensieren sich selbst, aus Furcht vor Hohn und Ausgrenzung.
Freie Kunst braucht zwei Zutaten: Künstler, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen können und Gönner, die nicht bei Gegenwind einknicken. Ein guter Künstler folgt unbeirrt seiner Muse, wohin sie ihn auch führen mag. Und ein guter Gönner folgt unbeirrt dem Spruch: Sir, ich bin zwar nicht ihrer Meinung, aber ich kämpfe für ihr Recht auf freie Meinungsäußerung.
Hier stehe ich und kann nicht anders. Siehst du eine Möglichkeit für einen Kompromiss?