Veröffentlicht: 11.05.2018. Rubrik: Total Verrücktes
Abgelaufen (Teil 1)
Als der Wecker wie jeden Morgen um 6.30 klingelte, drehte Jackie sich stöhnend um und verpasste ihm eine mit der flachen Hand. Und dann noch eine und noch eine, bis er das Klingeln endlich aufgab. Eine Minute nach 7 dämmerte ihr dann im Halbschlaf, dass es Zeit zum Aufstehen war - und zwar sofort, wenn sie nicht die ersten beiden Schulstunden verpassen wollte. Erschrocken fuhr sie hoch, schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Schuhe, schnappte sich ihre Schultasche und rannte los. Fürs Kämmen war keine Zeit mehr, nicht mal mehr für einen Blick in den Spiegel. Zum Glück schliefen ihre Eltern noch, da sie beide Spätschicht arbeiteten. Die Standpauke über "Wer lange feiern kann, der kann auch früh aufstehen" blieb ihr so wenigstens erspart. Sie erreichte die Bushaltestelle eine Minute vor der normalen Abfahrtszeit und blieb aufatmend stehen. Jetzt fiel ihr ein, dass sie ihr Handy vergessen hatte, das sie zum Laden angeschlossen und auf ihrem Schreibtisch hatte liegenlassen. Egal, dann musste es eben ohne gehen. Kaum hatte sie diesen Gedanken abgehakt, bemerkte sie, dass keine anderen Schüler wie sonst immer an der Bushaltestelle standen. Sie hatte aber kaum Zeit, sich darüber zu wundern, denn der Bus hielt schon eine Minute später mit quietschenden Reifen vor ihr.
Sie stieg ein und hielt dem Busfahrer ihr Monatsticket unter die Nase, doch als sie wie immer weitergehen wollte, hielt der Busfahrer sie zurück.
"Ihr Ticket ist abgelaufen."
"Abgelaufen?" Jackie sah abwechselnd ihr Ticket und den Busfahrer an.
"Aber sowas von abgelaufen", sagte der Busfahrer.
"Stimmt doch gar nicht, das gilt noch bis zum 30.03."
"Gucken Sie mal auf das Jahr, gute Frau."
Der Busfahrer schien sie für ein wenig zurückgeblieben zu halten. Und wer nannte eine 17-jährige eine "gute Frau"?
"Wo ist das Problem? 2018. Steht doch da."
Der Busfahrer sah sie milde tadelnd an.
"Richtig, und damit ist es eine Rarität. 20 Jahre alt. Ach, setzen Sie sich hin, ich muss weiter, ich habe keine Zeit zum Diskutieren."
Jackie ging verwirrt weiter und setzte sich auf einen freien Platz ans Fenster. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild im Fenster. Sie sah es an, dann sah sie nochmal genauer hin. Dann rieb sie sich die Augen und zwickte sich in den Arm. Es nutzte alles nichts, das Spiegelbild im Fenster zeigte ihr nicht das 17-jährige Mädchen, das sie gestern noch gewesen war, sondern eine Frau im Alter von ca. Mitte 30, nur die schwarze Haarfarbe, die Haarlaenge bis zur Schulter und die braunen Augen stimmten noch mit dem Spiegelbild in ihrem Zimmer von gestern Abend überein.
Das war sicher ein Traum, das konnte einfach nur ein Traum sein. Wie konnte sie über Nacht 20 Jahre älter geworden sein?
Der Bus war normalerweise gut gefüllt um die morgendliche Uhrzeit, aber heute fuhren nur wenig Leute mit und Jackie kannte keinen von ihnen, auch nicht vom Sehen. An der vierten Haltestelle stieg sie aus und wollte ihren gewohnten Weg zum Wilhelm-Tell-Gymnasium einschlagen. Doch der Weg sah ganz anders aus als gestern. Er war mit anderen Steinen gepflastert und führte auch nicht mehr geradeaus, sondern schlängelte sich in eine Seitenstraße. Auch der Wegweiser "Wilhelm-Tell-Gymnasium" mit dem Pfeil in die richtige Richtung stand nicht mehr da, was ihr nach einigen Minuten auffiel. Was sollte das alles? War der Busfahrer falsch gefahren und sie hatte es, als sie ihr Spiegelbild betrachtete, vor lauter Entsetzen nicht bemerkt? War sie im Bus eingeschlafen? Denn das Spiegelbild konnte ja nur ein Traum gewesen sein.
Ihr fiel etwas ein. Sie kramte ihr Portemonnaie aus der Schultasche, zog ihren Personalausweis heraus und stieß einen überraschten Laut aus, als sie ihr Bild sah. Denn das zeigte eindeutig eine erwachsene Frau von mindestens 30 Jahren, und zwar genau die Frau, die sie auch in der spiegelnden Fensterscheibe des Busses gesehen hatte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein.
Alle anderen Angaben auf dem Personalausweis waren exakt so, wie sie sein sollten:
Name: Jacqueline Braumeister
Geburtsdatum: 28.02.2001
Anschrift: Sidella-Straße 22, St. Isann
Augenfarbe: braun
Größe: 168 cm
Jackie drehte den Personalausweis hin und her, aber das Bild der ca. 35-jährigen änderte sich nicht. Wieso musste ihr ausgerechnet jetzt das Märchen von Dornröschen einfallen? Das war doch lächerlich.
Sie beschloss, sich zunächst einmal auf den Weg zur Schule zu machen, doch dieser Entschluss stellte sie vor ein neues Problem: Wo war jetzt die Schule? Für gewöhnlich kam man von der Bushaltestelle zum Gymnasium, wenn man einfach nur geradeaus ging, doch der schnurgerade Weg existierte nicht mehr.
Aber die Schule konnte wohl kaum über Nacht verschwinden. Allerdings hätte sie auch nicht geglaubt, dass sie über Nacht 20 Jahre älter werden könnte und doch war es passiert.
Ende des 1. Teils