Veröffentlicht: 03.11.2021. Rubrik: Unsortiert
Der ferne Traum vom Hängen
Grau. Grau war die Farbe in der sie die Welt sah und alles darin wahrnahm. Einstmals, als die Farbtristesse Einzug hielt, verschwand nicht nur ihr Lachen dauerhaft sondern ebenso ihre Gefühle und Lebensfreude. Alles war grau. Der Geschmack des einst leckersten Mahls mit der Soße, in der sie sprichwörtlich hätte baden können, verschwand genauso wie ihre Erinnerungen an die bunte, unbeschwerte Zeit. Grau. Es graute sie, sie schüttelte sich. Die Zeit wie zähflüssiger, grauer Schleim zog sich in die Länge, Minuten kamen ihr vor wie Stunden, Stunden wie Tage. Wie lange sie in dieser Tristesse bereits lebte vermochte sie nicht zu sagen, außer: zu lange. Es graute ihr so sehr, sie wollte nicht mehr. In ihrer grauen Welt fand sie keine Begeisterung und keine Freude, aber viel schlimmer noch, weder Mitgefühl noch Verständnis.
Das einzige, was identisch schien, war die Nacht. Denn nicht nur sind nachts alle Katzen grau, auch sonst wird die Atmosphäre von der Abwesenheit der Farben beherrscht. Jede Nacht schlich sie sich aus ihrem grauen Zimmer in die dunkle Nacht, um sich unter dem von Sternen behangenen Himmel zu wünschen, in eben jenen einzutauchen. Eins sein mit den Sternen. Eins sein mit dem Universum. Ganz leise summte sie “einmal zu den Sternen und nie wieder zurück” und erschrak von der Gänsehaut, die ihren ganzen Körper in beschlag nahm. Nach gefühlten Jahren der Farbtristesse, nach einer endlosen grauen Zeit hatte sie etwas gefühlt, sich lebendig gefühlt!
Obwohl der graue Tag bereits begann strahlte ihre Erinnerung an die letzte Nacht in den schönsten Farben und sie entschloss sich, sich mit dem Himmel zu vereinen. Eins zu werden mit dem Universum. Aus dem peinigenden Grau, das ihr Leben beherrscht, zu entkommen. In der nächsten Nacht stand sie, voller Freude und mit einem Strahlen im Gesicht, das selbiges zuletzt vor Äonen zierte, mit einem Lasso auf der Kirchturmspitze und machte sich bereit. Sie würde das Seil zu den Sternen werfen und daran nach oben klettern oder beim Versuch sterben. Als sie begann floss eine Freudenträne über ihre junge Wange, über das Kinn; als sie auf dem Boden landete gab es eine Farbexplosion. Dem Mädchen wurde weiß vor Augen und sie nahm das Gefühl von Schwerelosigkeit wahr. In ihr kribbelte und knisterte es, im Bauch beginnend strahlte es in die Hüfte, Ober- und anschließend Unterschenkel, in jedem Zeh fühlte sie das aufkeimende Leben. Das Kribbeln ergriff sie und mehr Freudentränen schossen aus ihren Augenwinkeln während auch ihre Hände, Arme und Finger erweckt wurden. Es kribbelte am ganzen Leib und als sie wagte, ihre Augen zu öffnen, strahlte die Umgebung in allen Farben und sie lag in einer an Planeten befestigten Hängematte - sie hatte es geschafft, war Eins mit dem Universum geworden. Nicht mehr grau, sondern eine unvorstellbare Farbenpracht dominierte ihre Wahrnehmung und sie war glücklich. Glücklich, unbeschwert und frei.