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geschrieben 2018 von Chuck (Chuck).
Veröffentlicht: 12.04.2018. Rubrik: Unsortiert


Brief an Papa

Hallo Papa,

Kennst du mich noch? Ich bin es, dein Sohn. Ich weiß nicht, ob du jemals die Zeilen liest, aber in meinen Gedanken, erreicht dich dieser Brief, den ich dir gerade schreibe.
Eigentlich muss ich überlegen, womit ich anfangen soll. Es fällt mir schwer ...
Ich würde dir gerne sagen, dass du stolz auf mich sein kannst, aber das kann ich nicht. Sicherlich würdest du dich, wenn du das hier liest, fragen, wieso, oder?

Ich bin nicht der, den du gerne als deinen Sohn hättest. Jedenfalls schätze ich es. Woher soll ich wissen, ob ich so bin, wie du es dir vorstellst, oder vorgestellt hast? Ich weiß ja nicht mal, wie du warst ...

Abends liege ich oft im Bett und denke an dich. Würde ich sagen, dass es nur schöne Erinnerungen sind, wäre das gelogen. Manchmal sitze ich nur da und überlege, was ich eigentlich von dir weiß.
Ich erinnere mich an die Tage, als du uns zu Weihnachten besuchen wolltest, aber immer andere Ausreden gefunden hast, um nicht vorbeizuschauen.
Ich denke darüber nach, wie Mama und ihr neuer Lebensgefährte mir Geschenke zu Heiligabend gaben. Wie dort dein Name auf den Karten stand und ich sie voller Freude auspackte. An mein erstes ferngesteuertes Boot, das ich damals im Ententeich gestartet habe. Heute weiß ich nicht mal mehr, ob diese Geschenke wirklich von dir kamen oder ob Mama nur deinen Namen auf die Karte geschrieben hatte.
Wie gerne würde ich weiterhin glauben, dass die Pakete von dir, und nur von dir, waren?
Ich war damals fünf. Drei Jahre, nachdem du uns verlassen hast.
Erinnerst du dich daran? Erinnerst du dich daran, wie Mama dich gebeten hat, wenigstens an diesen einen Tag zuhause zu bleiben und nicht wieder in die Kneipe zu ziehen? Es war Weihnachten!
Aber anstatt deinem Kind zuliebe, du hattest mich auf dem Arm, nicht zu gehen, hast du mich aufs Bett gelegt und bist losgezogen.
Weißt du, dass mir Mama diese Geschichte anvertraute, als ich acht Jahre alt war? Heute, zweiundzwanzig Jahre später, erinnere ich mich noch, wie sie es mir erklärt hat.
Willst du, dass ich dir erzähle, woran ich mich erinnere, wenn ich an dich denke?
Erinnerst du dich an den einen einzigen Tag, an dem du es geschafft hast, mich morgens zur Schule zu bringen? Die zweite Klasse.
Ich war voller Stolz, als du mich bis zum Schulhof begleitet hast und meine Freunde dich zum ersten Mal sahen. Alle anderen Kinder kamen jeden Tag mit ihrem Papa zur Schule. Heute war endlich ich dran.
Es war mir egal, ob meine Freunde mich auslachten, weil mein Papa ein dreckiges T-Shirt anhatte.
Es war mir auch egal, dass du eine Alkoholfahne hattest, weil du gerade erst aufgestanden warst.
Hättest du mich angesehen, dann hättest du den Stolz in meinen Augen gesehen, weil du, mein Papa, mich zur Schule brachtest.
Danach hast du mich nie wieder zur Schule gebracht. Heute weiß ich, dass es nicht an mir lag, sondern du dich geschämt hast. Ich rede mir gerne ein, dass du gesehen hast, wie die anderen über dich lachten und du mich nicht in Verlegenheit bringen wolltest. Ich hoffe, dass es so war.

Erinnerst du dich an den Tag, als ich acht Jahre war und wir uns in der Stadt trafen, mit Mama?
Es war Zufall, dass wir uns sahen. Du wolltest gerade die Kneipe wechseln, da man dich wieder rausgeworfen hatte, weil du zu viel getrunken hast. Wieder mal warst du dreckig und unrasiert. Du kamst auf uns zu, mitten in der Stadt und hast Mama und mich begrüßt. Sie hat dich angemault, wie du so rumlaufen kannst und dass sie nicht möchte, dass du uns so anredest. Hast du da mal auf mich geschaut? Nein, hast du nicht. Denn sonst hättest du gewusst, dass es mir egal war, wie du aussahst. Ich war froh, dich endlich wiederzusehen.

Zwei Wochen später habe ich endlich den Mut gefunden, dich zu besuchen. Weißt du noch, wie ich und mein Cousin bei dir im Garten saßen und du uns Forelle zubereitet hast? Selbst heute denken wir daran zurück. Auch mein Cousin kennt noch den Geschmack des Fisches.
Danach haben wir uns wieder aus den Augen verloren.

Ich erinnere mich aber, wie ich nochmals zu dir kam und ich "Independent Day" gucken durfte. Auch heute kann ich den Film nicht schauen, ohne an dich zu denken.

Ich sehe es auch noch genau vor mir, wie wir uns später in der Stadt trafen. Ich war zwölf Jahre alt und musste meine Zigarette verstecken, als du auf die Gruppe von Jungs zugewankt kamst.
Du hattest ein blutiges T Shirt an, da du am Abend vorher gestürzt warst und dir die Nase gebrochen hattest. Obwohl die anderen verekelt weggingen, habe ich dich in den Arm genommen.
Erinnerst du dich, wie der Bäcker von gegenüber aus seinem Laden stürmte und schrie: "Lass den Jungen los, du Penner!", und ich ihm entgegentrat und ihm sagte: "Lassen Sie ihn bitte, das ist mein Papa"?
Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie einen so traurigen Menschen, wie den Bäcker, gesehen.

Es wäre unfair, wenn ich dir nur Vorwürfe machen würde ... Manchmal, wenn ich im Bett liege und an dich denke, überlege ich, was ich anders hätte machen können.

Ich war nie ein guter Sohn.
Habe ich dir jemals gesagt, du sollst aufhören mit dem Trinken?
Habe ich je gesagt, wie stolz ich auf dich bin, dass du deinen Entzug machst und du es schaffen wirst?
Dir gesagt, dass ich dich liebe?

Nein, habe ich nie ...
Und jetzt?
Jedes Mal, wenn ich ein Bild von dir sehe, vermisse ich deine Stimme.
Manchmal ist es ganz schlimm, selbst nach all den Jahren.


Ich will aber auch, dass du weißt, was mit den Menschen, die du verlassen hast, geschehen ist.
Mama hat einen anderen gefunden, mit dem sie viele Jahre glücklich war, bis er an Krebs verstarb.
Dieser Mann war mir wie ein Vater. Ein Papa, den ich mir immer gewünscht hatte. Und weißt du was? Obwohl dieser Mann mich aufgezogen hat, seit ich drei Jahre alt war, habe ich ihn nie Papa genannt. Obwohl er noch weitere drei Kinder mit Mama bekommen hat, habe ich niemals Vater zu ihm gesagt. Ich wusste, wer mein Papa ist. Du!

Weißt du, wie sehr ich dich dafür hasste, als du dich nicht mehr gemeldet hast? Weißt du, wie es Mama geht?
Wie es mein Leben veränderte, als du dann endgültig gingst?

Wenn du diesen Brief jemals lesen wirst, dann möchte ich, dass du weißt, dass es Mama schlecht geht. Ich war sechzehn, als sie komplett allein war. Ihr Lebensgefährte war tot, ihre Mutter verstarb, deine ebenfalls. Wir waren vier Kinder und eine depressive Mutter, der die Zwangsräumung bevorstand. Wir hatten kaum Geld und ohne unsere Tante hätten wir nicht mal Toastbrot gehabt, um etwas zu essen. Mittlerweile hat sie zwar jemanden gefunden, der ihr neue Kraft gibt, aber die Frau, die du einst kennenlerntest und geheiratet hast, das ist sie nicht mehr.

Vor kurzem traf ich deinen Bruder, aber außer ein paar belanglosen Wörtern, haben wir kaum etwas reden können. Zu viele Unterschiede sind zwischen uns, als dass wir uns je wirklich kennenlernen. Seine Tochter ist eine wunderschöne junge Frau geworden. Vielleicht siehst du sie ja ab und zu, vielleicht aber auch nicht.

Papa, ich trauere seit so vielen Jahren um dich. Der Schmerz nimmt kein Ende, aber ich hab gelernt, damit zu leben. Ich trauere für mich allein, aber manchmal zerreißt es mich, weil ich den Schmerz dann nicht mehr ertrage.
Es gab nie jemanden, der mich auffing. Niemanden, der fragte: "Wie geht es dir?", und wenn doch jemand mal Interesse an meinen Gefühlen zeigte, hab ich ihn abblitzen lassen.
Ich war noch nicht bereit, darüber zu sprechen.

Heute, so glaube ich jedenfalls, bin ich bereit endlich mit dir über das zu reden, was in mir vorgeht.
Obwohl ich weiß, dass es zu spät ist. Denn du wirst mir nie wieder antworten können.

Der Mensch, der ich nun bin, der bin ich durch dich geworden.
Ich gehe in die Kirche, nicht weil ich an Gott glaube, sondern weil ich Glauben möchte, dass, egal wo du jetzt bist, es dir besser geht. Du darfst nicht denken, dass meine Erinnerungen an dich klar sind. Wie oft sehe ich dich mit den Augen, wie ich dich das letzte Mal sah? Wie oft schau ich auf dein Foto und sehe dich nur noch schleierhaft und immer wieder kommt dieses grausame Bild in meinen Kopf. Wie du im Krankenhaus sitzt und dein ganzes Gesicht voller Tumore ist. Es lässt mich nicht los. Wie oft denke ich an den letzten Tag, als ich dich im Krankenhaus besuchte. Nie hast du mich erkannt, weil du durch das Morphium nicht klar denken konntest. An dem Tag, bevor mein Leben vollkommen versank, drehte ich mich zum Abschied noch einmal um, damit ich dir zuwinken konnte. Das letzte Bild, das ich von dir sah, war, als du mir zurückgewunken hast. Der einzige Tag, als du mich erkanntest. Hätte ich an dem Tag gewusst, dass ich dich nie wieder sehen würde, Papa ich hätte dich in den Arm genommen und nie wieder losgelassen.
Ich hätte dir so viel sagen wollen, wie sehr ich dich liebe, wie sehr du mir fehlen wirst, obwohl du nie der Vater warst, den ich mir gewünscht habe.
Das konnte ich nicht. Als Mama am nächsten Morgen in mein Zimmer kam und mir sagte „Papa ist tot“, starb in mir etwas, dass niemals hätte sterben dürfen.


Ich habe diesen Brief geschrieben, weil ich eine Kurzgeschichte schreiben wollte, für ein kleines Forum im Internet. Eigentlich sollte das Ganze nur dazu dienen, um meine Rechtschreibung zu prüfen und meine Kommasetzung zu verbessern. Aber während ich hier sitze und schreibe, ist mir klar geworden, dass es niemals darum ging.

Papa, ich habe Angst. Ich habe Angst, dass ich eines Tages ein eigenes Kind bekomme und den gleichen Fehler mache, wie du es damals getan hast. Dass ich meinen Kindern nicht das geben kann, was sie verdienen. Angst davor, ihnen niemals ein richtiger Vater zu sein.


Obwohl ich gerne glauben möchte, dass du auf mich hinabblickst und die Feder führst, die diesen Brief schreibt, dass du siehst wie meine Finger die Buchstaben tippen und du lesen kannst, was ich dir so gerne sagen würde, weiß ich, dass es niemals dazu kommen wird.
Aber egal was du von mir denkst, wenn du siehst was ich hier unten mache, du sollst immer wissen, dass ich mich keiner Träne schäme, die ich vergieße, wenn ich an dich denke.

Jede Träne die ich wegwische, soll dir zeigen, dass du immer ein Teil von mir bist und in meinem Herzen weiterlebst.

Dein Ableben hat mir etwas Wichtiges gezeigt. Wir brauchen keine Angst vor dem Tod zu haben, denn nicht wir sind die, die dadurch leiden. Es sind die Menschen in unserem Leben, die leiden.
Die Lebendigen tragen die Trauer um die Menschen, die sie verloren haben. Ich kann dem Tod nun ebenbürtig gegenüberstehen und fürchte mich nicht mehr vor ihm. Es macht mich nur traurig, wenn ich daran denke, was und wen ich alles zurücklassen werde.

Papa, ich liebe und vermisse dich.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Chuck am 12.04.2018:

Dieser Brief, ist eine Tatsachen Geschichte. Der Protagonist ist real, die Geschichte somit auch

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