Veröffentlicht: 29.10.2021. Rubrik: Menschliches
Tanila
Die Kälte schlief noch in ihren Zehen als Tanila sich aufrichtete um dem Stechen in ihrer Brust auf den Grund zu gehen. Sie stützte sich mit dem Ellenbogen auf, wodurch die obere Schicht des Kartons postwendend nachgab und die Härte des darunter verborgenen Betons eine Stelle ihres Ellenbogens ansprach durch die ein dumpfer Schmerz ausgelöst wurde. Mit Kraftaufwand befreite sich Tanila aus ihrer Seitenlage und richtete sich vollends auf. Direkt wurde sie von dem kalten Wind, der ungestört durch die Unterführung fegte, wacher. Unbeeindruckt zwang sie ihre Augen trotz der verklebten Wimpern sich zu öffnen. Sie zog ihre klammen Glieder zu sich und versuchte ihre Körperwärme die von ihrem Oberkörper ausging auf die restlichen Körperteile zu verteilen. Das Stechen hatte sich durch die Bewegung verflüchtigt. Das Gefühl von Leere das sie nur durch den Schlaf nicht gespürt hatte, schlich sich wie in jeder Sekunde des Tages, in der sie bei Bewusstsein war, ein. Sie nahm die missliche Lage in der sie sich befand nicht einmal wahr, da war nur Leere, keine Angst, keine Wut, keine Sehnsucht, nur Leere verbunden mit unendlicher Ruhe. Sie war an einem Punkt, den die meisten Menschen so fürchten, dass sie alles tun würden um es nur nicht am eigenen Leib zu erfahren. Tanila war es egal, sie war unten, das war ihr bewusst. Die Leere aber rettete sie vor all den Gefühlen die sie diese Realität bewusst werden lassen würden. Die Depression hatte sich schon in der Pubertät bei ihr bemerkbar gemacht. Den Grund dafür hatte sie in ihrer damaligen besten Freundin Thea gesehen. Tanila und Thea hatten sich in der katholischen Mädchenschule des Nachbarortes kennengelernt. Thea kam aus ärmlichen Verhältnissen und hatte eine Liebe zu Party, Sex und Drogen um sich ihrer Realität zu entziehen entwickelt. Sie hatte Tanila in ihren dumpfen Prozess der Abstumpfung mitgerissen und lebte ihr ganzes Temperament, ihren eigenen Schmerz an allem aus, was zu ihrer Umgebung gehörte. Tanila war ihre Umgebung. Alles fand in Tanilas Wissen statt, das selbstverletzende Verhalten, die Drogentrips, all das sollte von Tanila, von Irgendjemandem gesehen werden, damit Thea es spüren konnte. Wenn niemand hinsah, trieb Thea es auf die Spitze, bis es unmöglich wurde, es zu ignorieren. Tanila selbst hatte keine Unterstützung seitens ihrer Eltern, anderer Freunde oder durch sich selbst. Sie war auf Autopilot, verschwand regelmäßig in den Welten des Medienkonsums mit Illusionen von aufregenden Leben, tiefen Gefühlen, die aber nicht ihre eigenen waren, sondern die der dargestellten Figuren. Thea versuchte alles, um sich zu spüren; während Tanila darauf aus war, nichts zu spüren. In dieser Unterführung einer Berliner S-Bahn Station an einem Novembertag, spürte Tanila nichts als Leere und das, ohne im Konsum einer perfekten Netflixserie zu verschwinden.