Veröffentlicht: 08.10.2021. Rubrik: Unsortiert
FEIGENBLATT
Feigenblatt sein? Zu lesen in der Wochengeschichte aus meiner Feder:
„Ich ein Feigenblatt? Nie!“, warf mir mein Freund beim Wanderrast, den wir uns als kleine Gabe unter einem leeren Kirschbaum leisteten, an den Kopf. Ich war wie vor den Kopf gestossen. Was will Adam mit diesen Worten, die wie aus heiterem Himmel mir in den Schoss fallen, sagen. Was hat das zu bedeuten? Natürlich verstehe ich bestens seine Enttäuschung über den leeren Kirschbaum den wir jedes Jahr zur selben Zeit, um uns an den nicht uns gehörenden Früchten zu erfreuen, aufsuchen. Doch was hat das mit einem Feigenblatt zu tun? Dass wir neben dem Genuss der roten Pracht uns auch an unserem schlechten Gewissen delektieren, hat mir stets nachträglich Kopfzerbrechen bereitet. Weshalb nicht vorträglich blieb mir ein Leben lang ein ungelöstes Rätsel.
Doch die Wege der menschlichen Psyche sind verschlungen. Damit habe ich mich immer innerlich abspeisen lassen um mein Bauchgrimmen, das mein Gewissen auslöst, zu überwinden. Sitzt dieses in der Magengegend? Oder waren es die teilweise unreifen Kirschen, die dieses unangenehme Gefühl auslösten? Aber mit Feigen und Feigenblätter hat das nun wirklich nichts gemeinsam. Oder doch? Feigen sind auch Früchte. Und unreif genossen werden diese noch härtere Bauchschmerzen verursachen als das schlechteste Gewissen der Welt. Aber ein leerer Kirschbaum, von dem keiner von uns nur das Geringste stehlen, auch keinen Mundraub ausführen kann, sollte ein ‚Gut-Gewissen-Spender‘ darstellen. Des Kirschbaums Schattenspende ist kostenlos.
Oder wird neuerdings in unserer so unübersichtlichen, sicheren Informationszeit selbst der Schatten verkauft? Verrechnet? Gemessen an den eigenen inneren Schattenseiten, die wir so gut im Schatten des leeren Kirschbaums, verstecken wollen? So ist dieser doch ein kostbares Gut. Und mein Freund möchte im Schatten des leeren, seiner Früchte durch Frost beraubten Kirschbaums, sein Feigenblatt ablegen. Will er mir seine Schattenseiten offenbaren? Endlich ehrlich sein. Die Maske ausziehen? Was habe ich zu erwarten? Wird er seinen Dolch aus dem Wams ziehen. Auf mich losgehen. All die in seinem Schatten deponierten Aggressionen endlich loswerden wollen?
„Nein“, fährt er nun fort, „den Apfel pflücke ich nicht, diesen Fehler begehe ich nicht ein zweites Mal!“
Da bemerke ich wie Milch und Honig zu fliessen beginnen. Mich ummanteln. Entführen. Das Schwimmen in dieser flüssigen Masse ist nicht möglich. So lasse ich mich fallen. Treiben. In die süsse Zukunft, die so unsicher sich gestaltet, den leeren Kirschbaum und meinen Freund dabei hinter mir lassend.
So habe ich mir das Paradies wirklich nicht vorgestellt! Doch es bewahrheitet sich die alte, ja uralte Regel, dass die zukünftige Gegenwart mit Sicherheit sich jenseits aller unserer Vorstellungen erweist …
N A C H T
Sanft fällt die Nacht dem Tageslicht in den Rücken
Löscht sein Licht
Entzündet Sternenkerzen
Verteilt reichlich all ihre Träume.
Bäume erträumen das Wandern
Rehe das Jägersein
Flüsse endlich die Ruhe des Stehens zu erleben
Und der Mensch dasjenige des Verstehens.
Da, bereits der Morgenstern
Kündet vom neuen Tag
In dem alle Träume werden Schäume
Jeder mit der Wirklichkeit sich lebensnah zu verbinden hat.
Herzlichst
François Loeb
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