Veröffentlicht: 08.10.2021. Rubrik: Kürzestgeschichten
Larissa
„Natürlich machen Sie sich Sorgen. Das verstehen wir. Aber die meisten jugendlichen Ausreißer sind am nächsten Tag wieder zu Hause." Der Polizist lächelte Judith freundlich an.
„Nein", sagte Judith. „Sie verstehen leider nicht. Morgen könnte es zu spät sein."
Das Gesicht des Polizisten wurde ernst. „Sie meinen, Ihre Tochter ist entführt worden?"
„Sie ist nicht meine Tochter. Larissa ist meine Enkelin."
„Gibt es eine Lösegeldforderung?"
Judith schüttelte den Kopf. „Von einer Entführung war nicht die Rede."
„Denken Sie, sie hatte einen Unfall? Sie könnten die Krankenhäuser in der Umgebung anrufen... "
„Nein", stöhnte Judith. „Ich denke nicht, dass sie einen Unfall hatte."
„Gibt es Anzeichen dafür, dass sie Suizid begehen wollte?"
„Das hat sie nicht erwähnt."
Es war zwecklos, und sie konnte es dem Polizisten nicht mal verdenken. Sie gab die Vermisstenanzeige auf, ohne Hoffnung, dass sie damit etwas würde verhindern können und verließ nach einer halben Stunde die Polizeiwache.
Sie stieg in ihren Wagen ein und starrte frustriert in den Rückspiegel, als ob Larissa jede Minute auf der Straße auftauchen könnte, fröhlich winkend. Wie damals, als sie - damals 13 Jahre alt und noch strafunmündig - in hrer Schule Feuer gelegt hatte.
Und tatsächlich am nächsten Tag wieder zu Hause gewesen war.