Veröffentlicht: 22.08.2021. Rubrik: Grusel und Horror
Mrs. X oder The witch
Damals war ich zwei Jahre mit Jesper verheiratet, und das war mehr als genug. Immer noch quälen mich Alpträume aus dieser Zeit, obwohl das alles schon über zwei Jahrzehnte her ist.
Damals wohnten wir genau neben dem Friedhof. Ich sehe die Gräber noch vor mir, sie erstreckten sich weit die Hügelkuppe hoch, und darüber verlief eine Straße. Oft waren Fußgänger auf dieser Straße unterwegs, aber alle hatten es eilig, von dieser Straße wieder herunterzukommen. Es war ein einziges Hasten. Ich konnte sie von meiner Küche aus beobachten und sah manches Mal fasziniert zu, wie ihnen der Friedhof Angst einzujagen schien. Nur die wenigsten schauten überhaupt hinunter.
Unser Haus stand ziemlich abgeschieden, das nächste Haus war fast fünfzig Meter weit weg, und die Nachbarin war eine komische kleine Person, bei derem Anblick einem nicht ganz geheuer war. Wir nannten sie Mrs. X oder The witch, je nachdem, wer gerade zuhörte. Jesper sagte, sie sei nicht ganz richtig im Kopf. Die Kinder im Ort sagten, sie sei eine Hexe, und Frau Gerber, die Inhaberin des Lebensmittelladens, sagte mir „im Vertrauen“, man munkele, die alte Dame habe vor dreißig Jahren ihre Eltern umgebracht. Es konnte ihr aber nicht bewiesen werden. Die Eltern waren au dem Friedhof vor unserem Haus begraben worden. Sie waren tot in ihrem Haus gefunden worden, in dem selben Haus, in dem Mrs. X heute noch lebte. DanaSie waren erschlagen worden, was es mir schwer machte, an die Schuld von Mrs. X zu glauben. Konnte eine so kleine Person so viel Kraft haben?
„Sie kann ihnen vorher ein Schlafmittel gegeben haben“, vermutete Jesper.
„Wenn die Polizei bis jetzt nichts herausgefunden hat, werden wir wohl niemals erfahren, was wirklich passiert ist“, entgegnete ich.
„Wusstest du, dass sie noch eine Schwester hatte? Sie ist lange vor den Eltern gestorben, noch ganz jung. Was da passiert ist, weiß auch keiner.“
„Komische Familie“, sagte ich, und dann sprachen wir nicht weiter darüber.
Jesper war kein schlechter Mensch, nein, das nicht. Aber er war ein schlechter Ehemann. Er war selten zu Hause und ließ mich mit dem Haushalt und meinen Gedanken allein. Angeblich war es immer die Arbeit, natürlich waren es andere Frauen, mit denen er die Zeit verbrachte, die mir zugestanden hätte. Er hatte noch nicht mal ein schlechtes Gewissen. Ich ertrug seine Affären zunächst mit stoischer Ruhe; als ich merkte, dass es niemals besser werden würde, beschloss ich, mich von ihm zu trennen.
Aber vorher wollte ich noch herausfinden, was es mit der Sache mit Mrs. X wirklich auf sich hatte. Als Vorwand kaufte ich bei Frau Gerber eine große Kiste Äpfel, um sie ihr vorbeizubringen. Zum ersten Mal kam es mir zupass, dass Jesper niemals pünktlich zu Hause war. Anstatt wie immer mit dem Essen auf ihn zu warten, schrieb ich ihm einen Zettel: „Das Essen steht im Ofen, du brauchst es dir nur aufzuwärmen. Bin noch unterwegs. Kuss, Lydia.“ Er würde sich keine Fragen stellen und mir auch nicht. Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr, ehe ich ging. Es war genau 12.00 Uhr. Die Kirchturmuhr schlug bekräftigend dazu.
Ich nahm all meinen Mut zusammen ich hatte noch nie auch nur ein Wort mit Mrs. X geredet und sie bis jetzt nur aus der Ferne gesehen - und klingelte bei ihr. Was ich mir davon versprach, weiß ich selber nicht so genau. Ich war zu viel allein gewesen, hatte zu viele Krimis gelesen und wollte Miss Marple spielen. Aus purer Langeweile. Vielleicht wollte ich auch Jesper imponieren. Oder erreichen, dass er sich Sorgen um mich machte und mich danach nicht mehr so oft allein lassen würde. Vorausgesetzt, ich überlebte mein Vorhaben.
Zunächst war im Haus nichts zu hören. Dann kamen langsam Schritte an die Tür geschlurft.
„Wer ist da?“, hörte ich eine Frau fragen. Das klang nach einer sehr jungen Stimme – und nicht wie die Stimme der alten Mrs. X.
„Hier ist Lydia von nebenan“, rief ich. „Ich habe Äpfel gepflückt und wollte ihnen ein paar vorbeibringen. Wir haben einen Apfelbaum im Garten, und mein Mann und ich können nicht alle alleine essen.“
Die Tür öffnete sich langsam, und ich sah mich einer jungen Frau gegenüber.
„Vielen Dank“, sagte sie und streckte die Hände aus, um die Äpfel entgegenzunehmen. Das brachte mich in eine Zwickmühle. Ich wollte Mrs. X doch persönlich sehen. „Also eigentlich wollte ich die Äpfel persönlich überreichen“, begann ich, wobei mir auffiel, dass ich noch nicht einmal den richtigen Namen von Mrs. X wusste. Tolle Vorbereitung, dachte ich, als Miss Marple hast du gerade so richtig versagt. Doch ich hatte Glück – eine Zimmertür ging auf, und Mrs. X, die seltsame kleine Person, kam herausgeschlurft. Eher The witch als Mrs. X, dachte ich, denn in der Tat sah sie eher wie eine Hexe aus. Langes graues Haar hing ihr strähnig den Rücken hinunter. Die Augen waren klein und musterten mich misstrauisch. Der Mund war verkniffen und hing auf einer Seite schlaff hinunter. Ich wusste damals noch nicht, dass das ein Residuum eines stattgehabten Schlaganfalles sein konnte und wich unwillkürlich zurück. Die ganze Gestalt jagte mir Angst ein, und was sie sagte, noch viel mehr.
„Sie haben gar keinen Apfelbaum im Garten“, sagte sie. „Sie haben nicht mal einen Garten. Was wollen Sie wirklich?“
Ich trat einen Schritt zurück. „Nichts“, erwiderte ich lahm. „Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht. Es tut mir leid.“ Ich wollte mich zum Gehen wenden, stellte aber erschrocken fest, dass die Haustür hinter mir zugefallen war – ganz leise, sonst hätte ich es gehört.
„Sie gehen jetzt nicht“, sage Mrs. X fest. „Kommen Sie mit ins Wohnzimmer.“
„Das geht nicht … Ich muss nach Hause … Mein Mann wartet …“
Mrs. X gab ein Schnauben von sich. „So ein Unsinn. Ihrem Mann sind Sie piepegal. Der wartet nicht auf Sie. Und jetzt kommen Sie endlich.“ Sie ging voraus, und ich folgte verschüchtert. Woher wusste sie das von Jesper?
„Setzen Sie sich“, sagte sie im Wohnzimmer, wies auf einen Sessel und nickte der jüngeren Frau zu. „Mach unserem Gast das Gästezimmer fertig“, sagte sie, und ich bekam den Schock meines Lebens. „Ich möchte nicht hierbleiben“, sagte ich. „Ich will nach Hause.“ Ich starrte die jüngere Frau an. „Und wer sind Sie eigentlich?“
„Meine Haushaltshilfe“, erklärte Mrs. X. „Eigentlich meine Schwester, Emilie. Aber sie ist ziemlich jung gestorben, noch lange vor meinen Eltern. Als die dann tot waren, kam sie zurück, um mir zu helfen. Sie ist älter als ich, aber sie ist ja schon mit 25 Jahren gestorben. Deswegen sieht sie heute noch so jung aus.“ Sie lachte, und ich dachte, dass sie komplett verrückt sein müsse.
„Sie brauchen nicht so entgeistert zu schauen“, sagte Emilie, die sich zu amüsieren schien. „Es ist alles wahr, was meine Schwester sagt. Ich dachte, nachdem man ihr das mit unseren Eltern anhängen wollte, brauchte sie Unterstützung. Und dann bin ich einfach geblieben.“
„Das ist doch alles nicht wahr“, brachte ich heraus. „Das kann nicht sein. Es gibt keine Geister …“ In diesem Moment schlug von irgendwoher eine Uhr, und aus reiner Gewohnheit zählte ich die Schläge. Elf Uhr. Das konnte doch nicht sein? Ich war um zwölf Uhr von zu Hause aufgebrochen.
Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war in einem Zeitkontigent-Traum. Das heißt, dass alles, was passierte, eigentlich schon lange passiert war. Im Traum war ich in die Vergangenheit gerutscht. Ich musste unbedingt aufwachen. Wann war ich überhaupt eingeschlafen? In meinem Sessel, als ich auf Jesper wartete und ihm einen Zettel über das Mittagessen schreiben wollte, das im Ofen stand… Wieso schlief ich mittags?
„Du bist in keinem Traum“, sagte Emilie. „Du bist jetzt bei uns und bleibst bei uns. Neugier hat noch niemandem gutgetan.“
„Du wirst es hier gut haben“, ergänzte Mrs. X. „Wir haben nichts gegen dich. Wir werden dir nicht wehtun. Du kannst im Haushalt helfen, mehr musst du nicht arbeiten. Aber wir können dich nie merh gehen lassen.“
Ich sah von einer zur anderen. Kein Zweifel, sie meinten es ernst.
Jetzt bin ich wohl schon an die dreißig Jahre in diesem Haus. Manchmal träume ich noch von Jesper, und ich träume, dass ich im Ort einkaufen gehe. Frau Gerber fragt mich, ob ich Mrs. X besucht habe, und ich sage ja, sie war sehr nett. „Haben ihr die Äpfel geschmeckt?“ fragt Frau Gerber, und ich nicke.
Seltsam in diesem Haus ist, dass die Zeit rückwärts zu laufen scheint. Die Uhren schlagen immer eine Stunde eher …