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1xhab ich gern gelesen
geschrieben von Ernst Paul.
Veröffentlicht: 26.05.2021. Rubrik: Unsortiert


Die Reise nach Lubmin oder das falsche Blau

Die Kinder habe ich zu Bett gebracht. Jetzt habe ich Zeit mich dem Geschenk meiner Eltern zu widmen. Meine Eltern beschenken uns hin und wieder mit einer kleinen Aufmerksamkeit. Mir haben sie diesmal einen Füllfederhalter geschenkt. Dieser Füllfederhalter ist in einer noblen Geschenkbox verpackt. Ein Luxus-Füllfederhalter von Scriveiner. Wunderschön aus Messing gefertigt, schwarz lackiert, mit 24 Karat Gold vollendet. Mein Name ist eingraviert, die Garantiekarte ausgefüllt. Ich suche in der Bedienanleitung die deutsche Übersetzung und setze meinen Füllfederhalter in Betrieb. In der Werbung zu diesem Stift lese ich: GENIESSEN SIE DAS GEFÜHL EINES WAHREN LUXUSSTIFTES IN IHRER HAND, ein atemberaubender Luxus-Füllfederhalter von Scriveiner, einer britischen Boutique- Marke. Und weiter lese ich: ÜBERTRAGEN SIE IHRE GEDANKEN MÜHELOS- Ihr Stift wird mit einer mittleren Schmidt-Feder geliefert, die 18 Karat vergoldet ist und mühelos über jede Papiersorte gleitet.
Der Stift liegt sehr ausgewogen in meiner Hand. Ich probiere die ersten Striche auf dem Zeitungsrand der Tageszeitung. Sie führen mich zu einer fettgedruckten Überschrift, die mir mitteilt, dass Biden die Sanktionen gegen den Bau der Nord Stream 2- Pipeline aufgehoben hat. Das wäre doch was für mich, denke ich und ziehe weiter Striche und Linien, probiere Buchstaben und Zahlen. In Lubmin suchen sie sicher Leute, die den Bau der Pipeline weiterführen und vollenden. Hilfsarbeiter werden bestimmt eingestellt. Ich suche meinen Schreibblock, lege ihn auf den Tisch und beginne zu schreiben:

Gudrun, mein lieber Schatz,
ich verlasse Dich und die Kinder für einige Zeit. Ich fahre nach Lubmin. Soeben lese ich in der Tageszeitung, dass die Nord Stream 2- Pipeline doch weiter gebaut wird. Ich werde mich dort bewerben. Es ist doch besser ich bewerbe mich vor Ort. Und das gleich früh. Das macht einen guten Eindruck. Ich werde mich bis zum Personalbüro durchfragen, mich vorstellen und mein Anliegen vortragen. Der Personalchef wird begeistert sein, wenn ich ihm sage, dass ich die Nacht durchgefahren bin, um mich heute zu bewerben. Früh als erster und unangemeldet. Eine Initiativbewerbung eben. Was ich dort machen könnte, weiß ich nicht. Es gibt doch sicher genügend Hilfsarbeiten.

Ich halte inne und lege den Füllfederhalter beiseite. Ja, was soll ich denn dort auch machen außer Hilfstätigkeiten. Als Verkäufer für Textilien habe ich Jeans verkauft. Meine Chefin eröffnete das Geschäft vor 10 Jahren und stellte mich in Vollzeit ein. Dazu eine junge Frau, halbtags und als Krankheits- und Urlaubsvertretung. Das Geschäft lief ganz gut. Die Umsätze stimmten uns monatlich zufrieden. Unsere Verkaufsfläche war nicht all zu groß, aber ausreichend. Die Kunden bedienten wir ganz individuell und wir nahmen uns auch die Zeit, die für eine gute Beratung gebraucht wird. Frau Schuhmann zahlte mir neben meinem Gehalt auch Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Doch mit dem Beginn der Pandemie wurde es anders. Der Umsatz ging spürbar zurück. Die Chefin musste Kurzarbeit anordnen. Unsere Halbtagskraft war gezwungen sich beim Amt zu melden, um Unterstützung zu bekommen. Sie traf es besonders hart. Allein, mit zwei Kindern. Der Vater ihrer Kinder hat sie verlassen und zahlt nur dann Unterhalt, wenn er flüssig ist. Das Gerenne zu den Ämtern, das Ausfüllen von Anträgen, Unterstützung erbetteln zu müssen, hat diese junge Frau kalt in ihren Gefühlen werden lassen und vergrämt.
„Warum darf ich nicht arbeiten, um mein Leben und das meiner Kinder selbst zu finanzieren. Wir halten doch hier im Geschäft alle notwendigen Voraussetzungen ein. Es sind nie zu viel Kunden im Geschäft. Der Abstand wird immer eingehalten. Falls doch zu viele Kunden im Geschäft sind, weise ich sie doch gern daraufhin solange zu warten, bis ich sie bedienen darf. Die Profifußballer spielen auch Fußball. Sie berühren sich, sie umarmen sich und klatschen sich ab. Selbst das Fernsehnen überträgt noch diese Ungerechtigkeit und zahlt dafür Unsummen, finanziert mit meinen Gebühren. Und ich darf nicht arbeiten, ich muss zu sehen, wie ich mit meinen Kindern um die Runden komme. Warum soll ich dafür Verständnis heucheln, wenn ich meinen Lebensunterhalt über Anträge erbetteln muss?“
Sehr verzweifelt und fragend schaute sie zu Frau Schuhmann.
„Profifußball ist während der Pandemie nur so notwendig wie fünflagiges Klopapier,“ entgegnete Frau Schuhmann, „aber Leute, die einmal im Wohlstand leben, geben nur widerwillig etwas ab. Und sie bestimmen, was Recht und Gesetz ist. Die Politik schert sich einen Teufel darum, dass sich dieser Zustand ändert. Die Politik ist nur ein Zahnrad im Getriebe der Lobbyverbände.“
Nach ihrem 65. Geburtstag endete der Mietvertrag von Frau Schuhmann und damit auch meine Festanstellung. Ihr Vermieter hatte beim Abschluss des Mietvertrages darauf bestanden den Mietvertrag jährlich zu verlängern. Er verlängerte ihn zwar stetig, erhöhte aber auch immer den Mietzins. Nach solchen Mietverhandlungen schüttelte Frau Schuhmann oft eine Woche lang nur kommentarlos den Kopf. Wir erhielten trotzdem unser Gehalt und unsere Zuwendungen. Weil Frau Schuhmann den Mietvertrag nicht verlängerte, verwies der Vermieter sie mit harten Worten auf ihre Fürsorgepflicht als Unternehmerin hin und dass sie jetzt, gerade in der Zeit der Pandemie, eine besondere Fürsorgepflicht für ihre Angestellten habe und den Mietvertrag doch gefälligst verlängern solle. Doch Frau Schuhmann lächelte nur müde und sagte, sie habe ein Leben lang täglich zwölf Stunden im Laden gestanden. Jetzt habe sie ein Recht in den Ruhestand zu gehen. Ihre Rücklagen wären aufgebraucht und sie habe keine Lust sich zu verschulden. Im versöhnlicheren Ton bot der Vermieter ihr an keine Erhöhung des Mietzinses vorzunehmen und wenn Frau Schuhmann Schwierigkeiten mit der Mietzahlung habe, könne er diese auch stunden. Auch Ratenzahlungen wären möglich. Er wäre doch kein Unmensch. Wir säßen doch alle im gleichen Boot und müssten doch jetzt zusammenhalten. Doch Frau Schuhmann lehnte dankend ab. Den Warenbestand von Frau Schuhmann übernahm ihre Tochter. Diese betreibt einen Internethandel und bietet jetzt auch Jeans an. Für das Ladengeschäft hat der Vermieter noch keinen Nachmieter gefunden. Das Geschäft steht noch leer.
Ich habe mich auf dem Arbeitsamt gemeldet und beziehe seitdem Unterstützung. Es ist nicht die Welt, was ich erhalte. Als Verkäufer habe ich ja auch nicht so viel verdient. Aber wir kommen vorerst um die Runden. Meine Frau arbeitet als Krankenschwester auf der Intensivstadion im hiesigen Krankenhaus. Ein stressiger Job. Die Betreuung der Kinder obliegt mir. Hat Gudrun Spätschicht, bringe ich die Kinder nach dem Abendbrotessen ins Bett und warte dann auf Gudrun. Oft sitze ich gelangweilt vor dem Fernseher und zappe durch das öde Programm. Trifft Gudrun ein, setzt sie sich in die Couchecke und legt ihre Beine hoch. Ich hole ihr ein Glas Mineralwasser, gehe in das Bad und lasse Wasser für ein Entspannungsbad ein. Habe ich das Bad vorbereitet, wecke ich Gudrun. Während sie in der Wanne liegt und sich entspannt, bereite ich unsere Betten vor, lüfte nochmals das Schlafzimmer und hole das Schlafzeug. Im Bett liegt Gudrun in meinen Armen und schläft sofort ein. Ich liege noch wach mit geschlossenen Augen und warte bis mich ein Traum erreicht.
Ich nehme den Füllfederhalter wieder in die Hand und schreibe weiter:

Es sind nur noch wenige Kilometer, die auf deutschem Boden gebaut werden müssen. In der Zeitung schreiben sie etwas von 28 km. Das ist keine allzu lange Strecke. Wenn sie mich einstellen, schaffen wir diesen Bau bis Weihnachten. Weihnachten bin ich dann zurück und wir können entspannt Weihnachten mit unseren Kindern feiern, falls es dein Dienstplan zulässt.

Was wird wohl Gudrun tun, wenn sie nach Hause kommt und meinen Zettel liest? Sie wird ihn überfliegen und sagen: „Ach du Blödmann.“ Und sie wird nach den Kindern schauen. Sie wird sie streicheln, ihre Zudecke zurechtrücken und ihnen ein Küsschen auf die Wange geben. Sie wird nachsehen, welche Reisetasche ich genommen habe und kontrollieren, ob ich auch Wechselwäsche, Wasch- und Rasierzeug eingepackt habe. Stellt sie fest, dass ich die alte Zahnbürste einpackt habe, wird sie schimpfen und sagen, dass sie von einem erwachsenen Mann verlangen könne, die Zahnbürste regelmäßig zu wechseln. Ihre Mutter wird sie anrufen und bitten, die kommenden Tage zu uns zu kommen, um auf die Kinder aufpassen. Die Kinder werden sich freuen, wenn Oma bei ihnen ist. Sie werden Oma Löcher in den Bauch fragen und Oma wird bereitwillig antworten. Sie wird ihnen erzählen, wie sie ihr erstes Taschengeld verdient hat. Welch schwere Arbeit es doch war nach dem Schulunterricht im Frühjahr in der LPG Rüben zu verziehen und im Herbst Kartoffeln zu lesen. Und dass sie dieses Geld gespart hat, um sich ihr erstes Fahrrad zu kaufen. Das MIFA- Fahrrad, das heute noch in ihrem Keller steht und dass sie nach wie vor pflegt und hütet wie einen Schatz.
Danach wird Gudrun mich auf dem Handy anrufen und fragen warum ich ihr nicht am Vormittag gesagt habe, was ich vorhabe. Wir würden doch sonst über alles reden. Mein Verhalten sei etwas merkwürdig. Und ich werde antworten, dass ich erst am Abend zum Zeitungslesen gekommen bin. Als ich in der Zeitung las, dass die Nord Stream 2- Pipeline weiter gebaut wird, habe ich mich spontan entschlossen, nach Lubmin zu fahren, um zu helfen. Ich möchte, dass dieser Bau fertig wird, bevor der Ami es sich anders überlegt und diesen Bau erneut mit Sanktionen belegt. Spätestens seit Trump weiß die Welt, dass politische Äußerungen und Entscheidungen nicht glaubhaft sein müssen. Und auf dem Arbeitsamt wurde mir gesagt, ich muss aktiv sein und die Initiative ergreifen. Das tue ich gerade. Ich werde morgen früh, wenn ich in Lubmin ankomme, gleich in das Personalbüro gehen, mich vorstellen und sagen: „He, ich bin hier, um Euch zu helfen. Ich bin keine Fachkraft. Ich bin Jeansverkäufer und bereit jede Hilfstätigkeit auszuüben. Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, dass dieser Bau endlich fertig wird und der Ami nicht mehr dazwischenfunken kann, um seine wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Bis Weihnachten haben wir es geschafft.“
Sie werden mich einstellen, zum Mindestlohn zwar, sie brauchen aber auch solch motivierte Mitarbeiter wie mich.
Gudrun wird Verständnis haben und stolz auf mich sein. Sie wird mir die Daumen drücken und eine gute Fahrt wünschen.

Ich nehme das Blatt Papier und überfliege den Text. Die Tinte ist eingetrocknet und ich bin enttäuscht über die Farbe. Ich hatte ein kräftiges Tintenblau erwartet. Auf dem Blatt ist kein Blau zu sehen. Ist es ein Schwarzblau? Oder doch ein Dunkelblau? Für mich eine undefinierbare hässliche Farbe. Kein Tintenblau. Es ist das falsche Blau. Ich nehme das Blatt Papier und stecke es in den Schredder.
Mit der Fernbedienung zappe ich mich durch verschiedene Fernsehsender, finde jedoch keine Sendung, die mich interessiert. Einfach öde. Bei einem „Tatort“ bleibe ich hängen. Wie jung doch hier einige bekannte Schauspieler sind. Keine Falten im Gesicht, ohne Bauch und volles Haar. Die Dienstfahrzeuge der Polizei in grün…

Gudrun öffnet fast lautlos die Wohnungstür und betritt leise den Korridor. Ich stehe auf, gehe zu ihr und helfe ihr aus der Jacke.
„Schlafen die Kinder?“ fragt sie und ohne meine Antwort abzuwarten öffnet Gudrun die Tür zum Kinderzimmer, geht hinein, streichelt unsere Kinder, zieht die Zudecke glatt und gibt ihnen ein Küsschen.
„Komm, setzt Dich und ruh Dich erst einmal aus. Ich lasse Dir Wasser in die Wanne und bereite Dir ein Bad.“
„Danke“, sagt sie, „aber heute nehme ich kein Bad. Ich dusche nur schnell und gehe gleich zu Bett. Eine Kollegin der Frühschicht ist erkrankt. Ich übernehme morgen ihren Dienst.“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Susi56 am 28.05.2021:

Gefällt mir ausnehmend gut! 👍🏻 Den Füllfederhalter als Aufhänger zu nehmen, ist genial und sehr gelungen. Auch der Stil passt gut zur Geschichte und das Ende, ja, hätte ich mir anders gewünscht, aber es ist passend und gut nachvollziehbar. Aus meiner Sicht: nichts verkehrt gemacht! 😎




geschrieben von Ernst Paul am 29.05.2021:

Vielen Dank Susi für deine Beurteilung. Ich finde es gut, dass Du Dir die Zeit nimmst, um viele Geschichten sachlich zu bewerten. Deine Hinweise werden immer dankend angenommen. Vielen Dank dafür.




geschrieben von Susi56 am 29.05.2021:

Gern! Ich finde Feedback wichtig. Und bei so schönen Geschichten wie dieser... 😀

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