Veröffentlicht: 18.04.2021. Rubrik: Persönliches
Ich lerne wieder schreiben
Hierzulande 18. April 2021
Meine allerliebste Hannah,
vielen Dank für deinen letzten Brief. Mein Herz klopft immer sehr stark, wenn ich den Briefkasten öffne und einen Brief von dir vorfinde. Ich öffne ihn noch am Briefkasten stehend, so neugierig bin ich. Und so viel Sehnsucht habe ich. Ich sehne mich nach dem Duft, der sich entfaltet, wenn ich deinen Brief öffne. Ich sehne mich nach deiner akkuraten Handschrift auf dem weißen Büttenpapier. Du schreibst so schön und kunstvoll mit dem Füllfederhalter, dass ich gerührt bin und Tränen in den Augen habe. Deine Briefe hebe ich alle auf und bewahre sie in meiner Schatztruhe. Ich lese sie immer auch dann, wenn ich Sehnsucht nach dir habe. Sie lassen mich von einer schönen Vergangenheit träumen. Von den schönen gemeinsamen Zeiten, die wir schon erlebt haben. Und ich male mir eine schöne Zukunft mit dir aus.
Das hat mich auch bewogen, mir einen Füllfederhalter zuzulegen. Ich möchte auch so schönschreiben wie du. Ich möchte das Schreiben wieder erlernen. Meine Handschrift ist eine Katastrophe. Das Gekrakel, welches ich fabriziere, siehst du hier auf diesem Briefpapier. Bewusst habe ich für diesen Brief kein Büttenpapier verwendet. Für die ersten Schreibversuche mit dem neuen Füllfederhalter ist es mir zu wertvoll.
Ein guten und für mich passenden Füllfederhalter im Einzelhandel zu kaufen ist zurzeit nicht so einfach. Ich wollte mir bei Frau Hentschel einen Füller kaufen. Du kennst doch dieses kleine Schreibwarengeschäft, links am Ende an der Hauptstraße. Und die nette Frau Hentschel kennst du auch. Ihr Geschäft ist zurzeit geschlossen. Frau Hentschel wird geschützt. Die Regierung hat Angst, dass ich, wenn ich einen Füllfederhalter bei ihr kaufe oder bestelle, Frau Hentschel mit Corona anstecke. Das ist aller ehrenwert, setzt aber voraus, dass ich mich mit Corona infiziert habe.
Bei EDEKA darf ich zwar einkaufen, aber das Angebot an Federhaltern ist mau und die Beratung null. In dem Blister-Regal hing nur einen Füllfederhalter für Schulanfänger. Diesem Alter bin ich nun wahrlich entwachsen. Ich habe mir nun einen Füllfederhalter bei Amazon bestellt nebst zwei Päckchen Patronen. Dieser Füllfederhalter schreibt sehr gut, aber eben nur so, wie er von meiner Hand geführt wird. Und meine Schrift sieht grässlich aus. Ich muss das Schreiben üben, ich muss es wieder neu lernen. Du siehst, ich habe einiges vor, was das Schreiben betrifft. Frau Hentschel tut mir leid. Ich hätte mich gern von ihr beraten lassen. Gerade in meiner Situation ist doch eine fachgerechte Beratung sinnvoll. Meine schwere klobige Hand ist nicht für jeden x-beliebigen Füllfederhalter geeignet. Aber Beratung darf nicht sein. Beratung ist nicht gewollt. Für Frau Hentschel sollte das aber gut sein. Wenn sie keinen Umsatz macht, muss sie auch keine Steuern zahlen. Amazon geht es nicht besser. Amazon zahlt kaum Steuern, die Mitarbeiter müssen aber arbeiten und nun auch noch die Arbeit von Frau Hentschel mit erledigen. Vielleicht bekommt ja Amazon staatliche Unterstützung für die Überstunden, die jetzt die Mitarbeiter leisten müssen.
Ich weiß, du magst meinen Sarkasmus nicht. Wenn du jetzt bei mir wärst, würdest du mir den Finger auf die Lippen legen, mir tief in die Augen schauen und sagen: „Sei still, mein Hase. Küss mich!“. Und ich würde dich fest an mich ziehen und dich küssen. Ein Ventil würde sich bei mir öffnen und der angestaute Druck entweichen. Und ich fühlte mich wieder ganz normal und stände wieder fest auf dem Boden. Mit beiden Beinen. Das wäre doch schön. Für dich, für mich, für uns, liebste Hannah, meine kleine Normalität. Und wir könnten beginnen das Schreiben zu üben. Meine Hand ist sehr ungelenk, halb steif und ungeübt. Das Gefühl für den Füllfederhalter ist verloren gegangen. Es bedarf bei mir täglicher Übungen und Gymnastik, um die Hand wieder fit zu machen. Die Bequemlichkeiten mit dem Schreiben am PC, am Laptop oder auch am Smartphone haben eben ihren Preis. Ja, bei all diesem Fortschritt gibt es auch immer Verlierer. Ich gehöre dazu und muss das Schreiben mit der Hand wieder lernen.
Wenn Du bei mir bist, werden wir das Schreiben üben. Täglich und gemeinsam.
Zum Üben nutzen wir den Roman „Anna Karenina“ von Lew Tolstoj. Er steht noch ungelesen in meinem Bücherregal. Du wirst mir dann jeden Abend eine halbe Seite diktieren und ich werde dein Diktat in Schönschrift niederschreiben. Sollte dir Tolstoj nicht gefallen, bestelle ich „Vom Winde verweht“. Wenn ich einen dieser Romane in Schönschrift niedergeschrieben habe, sind unsere Kinder, wir sind uns doch einig, dass wir zwei Kinder haben werden, bereits im schulpflichtigen Alter. Dann werde ich mit unseren Kindern das Schönschreiben üben. Und du bekommst für dein Schatzkästchen, meine liebste Hannah, nicht nur regelmäßig Liebesbriefe, sondern auch Liebesgedichte. Alle mit Füllfederhalter und in Schönschrift auf weißem Büttenpapier.
Hannah komm bitte alsbald zu mir und bleibe für immer.
Ich umarme und küsse dich ganz zärtlich.
Dein Hase.