Veröffentlicht: 17.05.2021. Rubrik: Unsortiert
Der Ring
Der Ring war filigran und schnörkellos. An der Oberfläche waren einige kleine Kratzer zu sehen, die sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatten, und der goldene Farbton schien matt und verblichen. Er hatte sie den größten Teil ihres Lebens begleitet, und diese lange Zeit sah man ihm auch an. Damals, als sie ihn zum allerersten Mal am Finger getragen hatte, hatte er noch makellos geglänzt. Keine Kratzer oder Macken waren auf seiner goldenen Oberfläche zu sehen gewesen. Auch ihre Hand, an der er damals seinen Platz gefunden hatte, hatte noch anders ausgesehen als heute. Sie war ebenmäßig, jung und frei von Falten gewesen. Heute sah man nicht nur dem Ring den nagenden Zahn der Zeit an, sondern auch den Fingern, die ihn hielten. Ihre Hände waren runzlig geworden, übersäht von Altersflecken, und die Adern traten stärker hervor. Es waren Hände, die viel erlebt hatten, die Hände einer alten Frau.
Sie drehte den Ring zwischen ihren Fingern, während sie hinaus in den grauen Himmel sah. Der Tag war dunkel, durch die Wand aus dicken, weißen Wolken drang kein Sonnenstrahl, und ein eisiger Wind jagte die Blätter vor sich her durch die Luft. Es war einer dieser Tage, die nichts Gutes bringen konnten und an denen man froh war, wenn man sich abends im Bett endlich von ihnen verabschieden konnte.
Sie hatte einige dieser Tage erlebt in ihrem langen Leben. Aber die meiste Zeit über hatte sie ein warmes Zuhause gehabt, in das sie vor der Kälte hatte flüchten können. An diesen Tagen, wenn die dunklen Wolken sie zu verfolgen schienen und ihr nichts gelingen wollte, sie Streit mit den Kindern oder Probleme bei der Arbeit hatte, hatte sie einfach nur warten müssen, bis ihr Mann abends nach Hause kam. Ihr Mann hatte immer ein kleines Stückchen Sonne mitgebracht, einen Lichtstrahl, der auch durch den dunkelsten und noch so verregneten Himmel gedrungen war. Sie hatten zusammengesessen und Tee getrunken, und in der Wärme ihres Zuhauses war sie aufgetaut. Sie hatte ihm von ihrem Tag erzählt, und gemeinsam konnten sie gar nicht anders, als über die dummen Kleinigkeiten bei der Arbeit oder die pubertären Anwandlungen ihrer Kinder zu lachen, die ja eigentlich alle halb so wild waren. Ihr Mann hatte ihr gegenübergesessen, mit seinen strahlenden Augen, und hatte mit seinem herzhaften Lachen auf ihre Geschichten reagiert, weshalb sie diese für ihn immer extra amüsant ausgeschmückt hatte.
Allerdings gibt es in einem so langen Leben auch Tage, an denen man nichts zu lachen findet, selbst wenn man sich noch so viel Mühe gibt. Als sie ihren Job verlor, als ihr ältestes Kind von einem Auto angefahren wurde und im Krankenhaus lag, als ihre Tochter weinend anrief und von ihrer Fehlgeburt erzählte. Selbst an solchen Tagen hatte ihr Mann sein Stückchen Sonne nicht verloren, auch wenn es weniger hell zu strahlen schien als sonst, und sie saßen still zusammen und wärmten einander. Und immer hatte er ihr gegenübergesessen, die rechte Hand entspannt auf dem verblichenen braunen Polster seines Lieblingssessels ruhend, an der derselbe goldene Ring glänzte wie der, den sie jetzt zwischen ihren knorrigen alten Fingern hielt.
Als junges Mädchen mit neunzehn Jahren hatte sie den Ring von ihm bekommen, als er sie gefragt hatte, ob sie ihr Leben mit ihm verbringen wollte. Sie hatte sofort Ja gesagt, und ihr Glück war so überwältigend gewesen, dass es sich anfühlte, als könnte es nicht nur für zwei Menschen allein bestimmt sein. Es war einfach zu viel gewesen. Und obwohl sie überglücklich gewesen war, hatte die kleine Stimme in ihrem Inneren immer gesagt, dass dies unmöglich ihr Leben sein könne. Dass er es sich eines Tages anders überlegen würde. Wenn er merken würde, dass sie keine Sonne für ihn sein konnte, dass das Zusammenleben mit ihr nicht so leicht und unbeschwert sein würde wie sein bisheriges Leben. Diese Stimme war mit der Zeit immer leiser geworden, aber ganz verstummt war sie nie. Manchmal hatte sie sich abends im Bett dabei ertappt, wie sie die schlafende Gestalt ihres Mannes betrachtete, wobei eine überwältigende Mischung aus Unglauben und Dankbarkeit in ihr aufgestiegen war. Und immer wieder aufs Neue musste sie die kleine Stimme in ihrem Innern daran erinnern, dass sie nicht durch ein Fenster von außen zu diesem Glück hineinschaute, sondern dass dies ihr Leben war.
Und doch hatten sie ein ganzes Leben miteinander verbracht und ihre Ringe nie wieder abgelegt. Und genau wie ihre Ringe hatte auch ihre Ehe mit den Jahren Macken und Kratzer bekommen. Obwohl der äußere Glanz mit der Zeit ermattet war, hatten sie doch allem Stand gehalten, waren unter der Oberfläche nur noch stärker geworden.
Sie hatte ihm wirklich geglaubt, dass er sein Versprechen einlösen würde, für immer bei ihr zu bleiben. Doch seine Schritte waren nicht mehr im Haus zu hören, und auch sein brauner, alter Lieblingssessel neben ihr war leer.
Mit einem Ruck zwang sie sich, ihre Gedanken aus der warmen, leichten Vergangenheit zurück ins Hier und Jetzt zu lenken. Das Bild seines lächelnden Gesichts löste sich vor ihrem inneren Auge langsam auf, und an seine Stelle trat der graue Gehweg vor ihrem Haus, auf dem sich immer mehr Leute versammelten. Von ihrem Platz am Fenster aus konnte sie viele Autos vor dem Haus parken sehen, und sie hörte von unten schon Schritte und gedämpfte Stimmen zu ihr hinauf dringen. Außer ihrer Kinder und der restlichen Familie waren viele Freunde, Bekannte, Nachbarn und ehemaligen Arbeitskollegen gekommen. Er war sehr beliebt gewesen.
Sie hörte schon die zögerlichen Schritte ihrer Tochter auf der knarrenden Treppe, die wahrscheinlich sehen wollte, wo sie so lange blieb und ob bei ihr alles in Ordnung war. Seufzend schob sie sich ihren Ring wieder an den Finger, wo er seit fast 60 Jahren steckte, und hievte sich aus ihrem Sessel.
Dann wandte sie sich der Tür zu, um ihren Mann auf seiner letzten Reise zu begleiten.