Veröffentlicht: 18.03.2021. Rubrik: Persönliches
Full Mental Jackett
Wenn ich in unregelmäßigen Abständen morgens in meinen Kleiderschrank greife um das einzige, sich in meinem Besitz befindliche, Jackett herauszuangeln, seufze ich stets unwillig auf. Als Mensch, der seine kleinen Brötchen eher in ziviler Gewandung verdient, ist dieses Jackett für mich ein Symbol für ungewollten Kontakt mit anderen Menschen und anstehenden Ärger. Im Mittelalter mag diese Funktion das am Horizont flatternde Banner des Feindes gehabt haben, heute ist es das in der hinteren Ecke des Kleiderschrankes baumelnde Jackett. Das einzig Gute an diesen Jackett-Tagen ist, dass sie meist sehr eng mit gutem Essen und größeren Mengen Alkohol verbunden sind.
Altersbedingt überwiegen bei mir noch die Hochzeiten und die darauf oft unvermeidlich folgenden Taufen, aber das ändert sich gewiss noch, wie mir letztens schmerzlich klar wurde, als ich wieder einmal morgens mein Jackett überstreifen musste.
Während sich eine illustre Gesellschaft auf dem Vorplatz des örtlichen Friedhofs sammelte, wurde rege darüber diskutiert, wer denn nun wo „liegt“. So manch einer schien die Übersicht mit den Jahren gänzlich verloren zu haben.
„Da drüben liegt doch der Bernhard, oder?“
„Nein, der Bernhard liegt da hinten, schräg gegenüber von der Agnes.“
„Ich dachte die Agnes liegt da vorne neben dem Fritz Günther.“
„Nein, der Fritz Günther liegt doch rechts vom Willi.“
„Ach du Scheiße, der Willi ist tot?“
„Ja sicher, wir waren doch letztes Jahr zusammen auf der Beerdigung.“
„Ich dachte, das war die Beerdigung von Gertrud!?“
„Nein, die Gertrud lebt noch, die kommt gleich.“
Irgendwie ist die Aussicht darauf, in einigen Jahren mehr Leute unter, als auf der Erde zu kennen deprimierend. Ich muss wirklich unbedingt mal zu einem Notar, denn eine meiner größten irrationalen Ängste ist die, im Jackett bestattet zu werden. Die gesamte Ewigkeit wäre dann ein einziger Jackett-Tag und dabei sind Ewigkeiten ja in der Regel ziemlich lang, wie man so hört.
Hochzeiten sind fast noch schlimmer, als Beerdigungen. Mit allerlei Leuten diverser Altersklassen wird man in einen Saal gepfercht und schon geht es los. Grob geschätzt unzählige Male kriegt man zu hören, auf welch verschlungenen, ganz sicher vom Schicksal, oder auch den (scheinbar sehr zynischen) Göttern, vorgegebenen Wegen die Liebenden zu einander gefunden haben.
Lebensnahe Sätze wie zum Beispiel „Ich war an dem Abend so dermaßen rotzevoll, das musste ja in einer Katastrophe enden“, oder auch, „Eigentlich war ich scharf auf ihre Freundin, aber die fand mich scheiße“, kriegt man dort eher selten zu hören.
Damit man die vielen Leute, die man niemals kennenlernen wollte, jetzt auch bloß kennenlernt, wird man zu höchst rätselhaften Kennenlernspielchen gezwungen, die sich offenbar ein geistig und vor allem zwischenmenschlich minderbemittelter Zwergstaatdiktator, an einem seiner eher manisch-depressiv geprägten Kokain- und Whiskytage ausgedacht hat. Bestimmt in einem Jackett mit schicken Orden und Abzeichen. Hätte mal jemand behauptet ich würde einst mit Jackett und Pferdemaske bekleidet wie ein Irrer durch eine johlende Menschenmenge rennen um einen Damenslip zu fangen... er hätte leider recht behalten.
Wenn ich am Ende eines vermeintlich endlosen Jackett-Tages nach hause komme und die verhasst-gefürchtete Joppe wieder auf den Bügel hänge, atme ich erleichtert auf, eine wohltuende Ruhe durchströmt mich und ein friedliches Gefühl macht sich in mir breit. Ich habe die Uniform angelegt, bin losmarschiert um meine verdammte Pflicht zu tun und habe überlebt!
Ohne Jackett kann ich auch wieder angemessen fühlen. Ich kann endlich traurig darüber sein, dass jemand nicht mehr da ist, oder, und das ist natürlich weitaus schöner, mich darüber freuen jemand anderen in einem Winkel meiner Welt begrüßen zu dürfen. Aber, auch das ist mir bewusst, der Frieden ist nur kurz und trügerisch, denn der nächste Jackett-Tag kommt bestimmt.
Während ich das hier schreibe verkündet ein Klopfen meines Telefons eine Nachricht. Ein seltsam verwaschenes Bild erscheint. Ich erkenne zuerst gar nichts. Entweder, der Herr Bräutigam hat einen halb aufgetauten Truthahn aus dem zweiten Stock fallen lassen, oder... Ich sehe etwas genauer hin... Oje, in einigen Monaten wird wohl eine Taufe anstehen.
Aus dem Dunkel des Kleiderschrankes höre ich leise ein böses Lachen.
„Ich komme wieder, muhahaha“.