Veröffentlicht: 01.02.2021. Rubrik: Persönliches
Kokon
Eine meiner schönsten Erinnerungen ereignete sich rund zwei Stunden bevor sie mich aufforderte, wie ein Grashalm im Wind zu schwanken. Ich stehe mitten im Raum. Wahrscheinlich spielt sanfte Musik aber ich höre sie kaum. Durch die dünnen Socken spüre ich den festen Linoleumboden unter mir. Dennoch schwankt alles. Der Druck auf meinem Brustkorb ist unerträglich und ich spüre wie Übelkeit in mir hochsteigt. Sie erkennt nicht, dass mir das Gewicht auf die Schultern drückt und den Atem abschnürt. Wie soll ich so eingezwängt überhaupt irgendeine Bewegung machen. Ich habe keine Ahnung, wie genau ein Grashalm im Wind schwingt, aber schweige vorsichtshalber. Gegen jeden Instinkt lehnte ich mich vorsichtig, langsam zur Seite, dann in Zeitlupe in die entgegengesetzte Richtung. Durch die Bewegung streicht mein Ärmel sanft gegen meine Haut und ich spürte wie mein Bein von innen gegen das Hosenbein stößt. Mir wird schlecht. Ich versteinere, doch bevor ich sie aufhalten kann, strömen Tränen über mein Gesicht. Auf keinen Fall werde ich mich noch einmal bewegen. Ich will raus aus diesem Körper, weg von diesem abstoßenden Gefühl, meine Haut auf Stoff. Derart unbetäubt.
Zwei Stunden zuvor liege ich strahlend und glücklich in der Hängematte. Der bunt gestreifte Stoff umgibt mich in derartiger Fülle, dass die Seiten üppig über mir zusammengeschlagen sind und einen gemütlichen Kokon bilden. Nur wenige Zentimeter über dem Boden und doch Lichtjahre entfernt schaukelt mein Kokon in absoluter Sicherheit. Ich fühle mich so wohl, wie… ich weiß nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal so glücklich und behütet und beschützt gefühlt habe. Obwohl sie genau neben der Hängematte sitzt, keinen Meter von mir entfernt, vergesse ich völlig, dass ich nicht alleine im Raum bin und genieße meine kleine Höhle. Wahrscheinlich liest sie sich gerade meine Antworten durch. Vielleicht ist sie etwas enttäuscht oder überlegt, ob ich die Fragen nicht richtig verstanden habe. Vor Ihr liegt die Skizze eines Körpers. Alles, Kopf, Arme, Brust, Bauch, Schoß, Beine und Füße, ist rot umrandet. Nur die Hände sind orange. Zart und zögerlich zieht sich die Linie um die Handflächen. Rot bedeutet absolutes Berührungsverbot, von niemandem, niemals. Gelb bedeutet, Berührungen sind okay, wie ein Handschütteln zur Begrüßung oder ein versehentliches Streichen am Arm. Da ist aber nichts gelb. Vielleicht fragt sie sich, was man mit so einem Mädchen machen soll, wenn es nicht berührt werden kann. Sie blickt auf die Hängematte herab, ohne die leiseste Ahnung zu haben, dass sich in diesem sanft schwingenden Kokon gerade jemand zum ersten Mal seit Langem in Sicherheit fühlt.