Veröffentlicht: 20.12.2020. Rubrik: Kinder und Jugend
Das Gewissen kommt immer wieder hoch
Ich bin Lukas und ging in die 4. Klasse als ich erstmals merkte, was es heißt einen Fehler zu machen und diesen später zu bereuen.
Es war ein normaler Mittwoch. Ich ging morgens aus dem Haus und machte mich auf den Weg zur Schule.
Im ersten Unterrichtsblock hatten wir ein Diktat geschrieben, dann spielte ich mit meinen Freunden in der Pause Fußball. Alles schien wie immer.
Doch dann ging ich wieder in den Klassenraum und stellte erschrocken fest, dass meine Flasche Apfelschorle ausgelaufen ist. Meine ganze Schultasche war nass – außen und innen-.
Einige in der Klasse lachten und ich musste die Pfütze wegmachen. Dieser Moment war mir echt unangenehm.
Doch viel schlimmer noch: als ich einen Blick in die Tasche warf, stellte ich fest, dass mein Englischbuch so stark in Mittleidenschaft gezogen worden ist, dass alle Seiten verklebt waren.
Und ich kannte die Regel die immer in den Büchern stand: „Verunreinigte Bücher müssen ersetzt werden“.
In der letzten Stunde hatten wir Englisch, doch zu meinem Glück wurde das Buch heute nicht gebraucht.
Ich hatte richtig Angst, dass ich das Buch ersetzen muss. Und wie sollte ich das bloß meinen Eltern erklären?
Zuhause nahm ich das Buch aus der Tasche. Die Seiten waren wie aneinandergeklebt und beim Aufmachen des Buches zerstörte ich eine Seite komplett.
Was sollte ich nun tun? Ich traute es mir nicht, meinen Eltern davon zu erzählen. Ich fürchtete den Ärger, den ich bekommen würde. Vielleicht hätten sie mich angeschrien oder ich hätte Hausarrest bekommen.
Jedenfalls wusste ich, dass ich spätestens bei der Rückgabe der Bücher ein Problem bekommen würde. Es schien ausweglos.
Doch dann kam mir ein Plan, mit welchem ich aus der Situation herauskommen wollte. Mir kam die Idee, das Buch eines Mitschülers zu stehlen, um dieses dann am Ende des Schuljahres als mein eigenes auszugeben.
Am übernächsten Tag hatten wir wieder Englisch. Nun schlich ich mich während der Pause in die Klasse und ging an die Tasche meines Mitschülers Niklas. Dass ich mir ausgerechnet Niklas ausgesucht habe, war Zufall.
Mein Herz pulsierte. Es hätte jeden Moment eine Lehrkraft in den Raum kommen können und ich wäre ertappt worden. Doch ich nahm das Englischbuch aus Niklas Tasche heraus und steckte es in meine.
Dann ging ich wieder nach draußen. Ich atmete durch, da ich nicht erwischt worden bin.
Aber noch war ich nicht durch mit meinem Plan. In der vierten Stunde hatten wir Englisch und Niklas bemerkte, dass sein Buch nicht in seiner Tasche ist.
Ich verspürte ein hohes Gefühl von Scham und eine starke Angst aufzufliegen. Was ist, wenn mich doch irgendwer gesehen hat und einen Verdacht schöpft?
Niklas war sich ziemlich sicher, das Buch eingepackt zu haben, konnte aber auch nicht ganz ausschließen es vergessen zu haben. Er wollte Zuhause nochmal nachschauen. Zu meinem Glück kam die Überlegung eines möglichen Diebstahls nicht auf.
Als ich wieder Zuhause war, nahm ich das geklaute Buch aus meiner Tasche. Ich strich den Namen von Niklas so durch, dass man ihn nicht mehr entziffern konnte. Dann schrieb ich meinen Namen hinein. Alles sah nun so aus, als wäre es mein Buch.
In der folgenden Woche sprach Niklas vor der Klasse an, dass er sein Buch auch Zuhause nicht gefunden hat. Er bat seine Mitschüler und Mitschülerinnen nochmal bei sich nachzusehen, ob jemand das Buch vielleicht ausversehen eingesteckt hatte.
Ich schämte mich innerlich, als einziger im Raum zu wissen, dass es kein Versehen, sondern ein richtig gemeiner Diebstahl war. Und mir war auch bewusst, dass er das Buch am Ende ersetzen müsste und fühlte mich richtig schlecht dabei.
Aber es gab für mich in dem Moment kein zurück mehr und entschied mich das ganze nun durchzuziehen.
Also vergingen die Wochen und das Thema verflachte vorerst. Ich nutzte das geklaute Buch und er schaute in das Buch seines Tischnachbarn. Doch mit dem Ende des Schuljahres kam das Thema wieder auf.
Nun forderte uns unser Englischlehrer Herr Meier dazu auf, die Bücher bis zum Ende der Woche abzugeben. Niklas hingegen sagte, dass er sein Buch einfach nicht wiederfinde. Er habe bei sich Zuhause alles abgesucht, aber nichts gefunden.
Herr Meier erwiderte daraufhin: „Dann wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als eine Rechnung an deine Eltern zu schreiben“.
Niklas betonte nochmal, dass er sich den Verlust des Buches überhaupt nicht erklären könne. Er reagierte aber vergleichsweise gefasst.
Vermutlich hat er bereits damit gerechnet, dass er das Buch ersetzen müsste, wenn es nicht wiederauftaucht. Auch mit seinen Eltern habe er bereits darüber gesprochen. Seine Eltern hätten nicht einmal geschimpft. Stattdessen hätten sie ihn sogar gelobt, dass er es ihnen von selbst erzählt hat.
Auf dem Rückweg dachte ich nochmal über alles nach. Nun wusste ich also sicher, dass er bzw. seine Eltern das Buch ersetzen müssen. Wieder kam mir ein Schamgefühl, als ich daran dachte, dass andere Menschen für etwas bezahlen sollten, was ich verbockt habe. Ich stellte mir erstmals die Frage: Musste das ganze wirklich sein? Wahrscheinlich hätten meine Eltern auch gar nicht so heftig reagiert, wie ich es am Anfang befürchtete. Oft stellt man es sich schlimmer vor als es ist.
Mir kam zu diesem Zeitpunkt der Gedanke die Wahrheit zu gestehen. Aber ich hatte einfach nicht den Mut dazu. Also ließ ich es wie es ist. Ich gab das geklaute Buch unter meinem Namen ab und niemand bemerkte etwas.
Die Eltern von Niklas bekamen eine Rechnung für das angeblich verlorengegangene Buch. Wie hoch die Rechnung war, wusste ich selbst nicht.
Nach den Sommerferien wechselten wir übrings auf die weiterführenden Schulen. Ich kam auf eine Sekundarschule, während Niklas auf das Gymnasium kam.
Wir waren nun also auf unterschiedlichen Schulen. Das Thema rückte damit für mich erstmal in den Hintergrund. Ich lernte neue MitschülerInnen kennen und fühlte mich wohl an der neuen Schule.
Im Unterricht zeigte ich in den folgenden zwei Jahren überragende Leistungen. Eines Tages bat unsere Lehrerin Frau Brinkmann meine Eltern und mich zum Gespräch. Sie sagte, dass ich mich auf der neuen Schule leistungsmäßig erheblich verbessert hätte und ich ihrer Meinung nach auf dem Gymnasium besser aufgehoben wäre.
Ich hing sehr an meiner derzeitigen Schule, doch ich wollte mir die Chance nicht nehmen lassen. So wechselte ich im darauffolgenden Schuljahr auf das Gymnasium.
Schnell stellte ich fest: es ist jene Schule, welche auch Niklas besucht. Er war nun in meiner Parallelklasse.
So kamen bereits nach wenigen Tagen an der neuen Schule die Erinnerungen an meinen Diebstahl zurück. Einmal standen wir uns in größerer Runde auf dem Schulhof gegenüber. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass ich ihm vor drei Jahren Unrecht getan habe, er aber nichts davon wusste.
Wieder kam mir der Gedanke ihm die Wahrheit zu gestehen und die Sache wiedergutzumachen. Doch ich fürchtete, dass sich mein Diebstahl an der Schule herumspricht und ich dann vielleicht ausgegrenzt werden würde.
Da wir immer noch in unterschiedlichen Klassen waren, hatten wir zunächst recht wenig miteinander zu tun. Doch mit dem kommenden Schuljahr wurden wir im Fach Religion in eine Gruppe eingeteilt.
Nun hatten wir zweimal die Woche gemeinsam Religionsunterricht und saßen wieder gemeinsam in einem Klassenraum.
Mir kam nun immer stärker der Gedanke reinen Tisch zu machen. Jedoch fehlte mir dazu immer noch der Mut.
Doch wenig später nahmen wir im Unterricht das Thema „Schuld und Vergebung“ durch.
Also setzte ich mich nochmal mehr mit dem auseinander, was ich damals eigentlich getan habe. Ich war nun 5 Jahre älter und mir wesentlich mehr darüber bewusst, ein welch schwerer Vertrauensbruch ein Diebstahl eigentlich ist.
Ich schämte mich bei der Vorstellung, wie hinterhältig und gemein es war, sich heimlich an die Tasche eines Mitschülers zu schleichen und ihn zu bestehlen. Es muss ein unangenehmes Gefühl für Niklas gewesen sein festzustellen, dass er sein Buch nicht mehr wiederfinden konnte und er es deswegen ersetzen musste, obwohl er überhaupt nichts dafürkonnte.
Nun entschied ich mich endgültig dazu, das Gespräch mit ihm zu suchen und meinen Fehler wiedergutzumachen.
Zunächst vertraute ich mich meinem besten Freund Stefan an. Es war das Erste mal, dass ich überhaupt jemandem davon erzählte. Er bekräftigte mich in meinem Vorhaben und sagte, dass dies wahre Größe und Stärke zeigen würde.
Natürlich kamen auch immer wieder zweifelnde Gedanken hoch wie: Soll ich es wirklich tun? Was ist, wenn er mir nicht vergibt und sich die Sache herumspricht?
Doch ich war stärker als diese Gedanken. Ich wollte das Thema für mich endlich aus der Welt schaffen und den Schaden, den ich damals angerichtet habe bereinigen.
Schlussendlich bat ich Niklas nach der Relistunde am folgenden Donnerstag um ein Gespräch unter vier Augen nach der Schule.
Er wirkte verwundert und konnte sich zunächst nicht vorstellen um was es gehen sollte Zumal wir ja bisher auch kaum miteinander zu tun hatten. Trotzdem willigte er ein.
So trafen wir uns nach dem Unterricht an einer ruhigen Stelle hinter der Schule.
Ich frug ihn, ob er sich noch an den Verlust seines Englischbuches vor 5 Jahren erinnern könne. Nach kurzer Bedenkzeit wusste er was ich meinte.
Ich gestand ihm daraufhin, dass ich das Buch damals geklaut habe, um nicht für mein verunreinigtes Buch aufkommen zu müssen. Ich bat ihn aufrichtig um Vergebung und bot ihm 20€ für das damalige Buch. Im Vorfeld hatte ich mich im Internet über den Kaufpreis des Buches erkundigt.
Er erwiderte daraufhin: „Ja, es war schon echt fies von dir, wenn es so war wie du es sagst. Aber Respekt! Ich finde es richtig stark, dass du das zugegeben hast, obwohl es sonst niemals aufgefallen wäre. Und kein Problem, ich verzeihe dir.“
Bevor ich ihm die Wahrheit beichtete, fühlte ich mich wirklich angespannt. Ich fragte mich, wie er bloß reagieren würde.
Doch in dem Moment in welchem ich ihm die Wahrheit sagte und sah wie er mir zuhörte, flog der Ballast von mir ab. Da er mir die Sache verziehen hat, konnte ich nun endlich damit abschließen.
Niklas und ich wurden in der Folge übrings gute Freunde, haben viel miteinander gelacht und uns auch außerhalb der Schule mal auf einen Kinobesuch getroffen.