Veröffentlicht: 18.10.2020. Rubrik: Lustiges
Papagei Pedro
Als die Kinder aus dem Haus waren, kauften Sigrid und Henning sich einen Graupapagei und nannten ihn Pedro.
Pedro war äußerst gelehrig und sprechfreudig. Binnen kurzer Zeit verfügte er über einen erstaunlichen Wortschatz, wobei erstaunlich leider nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu verstehen war. „Woher hat er diese schlimmen Ausdrücke nur?“, fragten Sigrid und Henning sich mehr als einmal. „Sprechen wir tatsächlich so? Oder die Kinder, wenn sie zu Besuch kommen?“ – „Bestimmt nicht! Es muss am Fernsehen liegen!“
Peinlich konnte es werden, wenn Besucher kamen. Nachdem eines Tages Hennings Chef von Pedro mit „Blöder Kerl!“ begrüßt worden war (glücklicherweise hatte der Chef Humor), erkannten die Eheleute, dass etwas geschehen musste. Behalten wollten sie den Graugefiederten auf jeden Fall. Schließlich beschlossen sie, seinen Käfig vor der Ankunft von Besuchern stets ins Schlafzimmer zu verfrachten: „Zum Glück sind die Wände so dick, dass man ihn dann nicht hört.“
Eines Vormittags, als Henning auf einer kurzen Geschäftsreise war, guckte Sigrid zufällig aus dem Fenster und sah mit Schrecken, dass ihre angeheiratete Tante Elsbeth geradewegs auf das Haus zukam. Ausgerechnet jetzt! Hätte sie sich nicht wenigstens telefonisch anmelden können?
Die unverheiratete und kinderlose Elsbeth, die für ihr fortgeschrittenes Alter noch sehr rüstig war, hatte Henning nach dem frühen Unfalltod seiner Eltern großgezogen. Daher fühlte Henning sich ihr gegenüber verpflichtet und wagte nicht, die Verbindung zu beenden, obwohl Elsbeth sich gegenüber seiner Frau stets unfreundlich verhielt. „Ich vermute“, hatte er Sigrid gesagt, „dass meine Tante eifersüchtig auf dich ist, weil jetzt du die wichtigste Frau in meinem Leben bist. Wir können nur hoffen, dass sie den Kontakt irgendwann selber abbricht.“
Gerade noch rechtzeitig hatte Sigrid den Papageienkäfig ins Schlafzimmer gebracht, als auch schon die Türklingel schellte. „Guten Tag, Tante Elsbeth! Henning ist leider nicht da…“
„Das macht nichts“, knurrte die Alte und drängte sich an ihrer angeheirateten Nichte vorbei in die Wohnung. „Ich wollte nur ein Fotoalbum mitnehmen. Mit Bildern aus Hennings Kindheit. Ihr bekommt es nächste Woche wieder.“
Sigrid schnappte nach Luft. Nicht nur wegen Elsbeths Unverschämtheit, sondern auch, weil die Fotoalben in einem Schrank im Schlafzimmer lagen…
„Das geht leider nicht, Tante Elsbeth. Aber ich kann dir gern Fotokopien der Bilder schicken, wenn du mir sagst, welche es sind.“
Elsbeth hatte sich inzwischen auf einen Stuhl im Flur fallen lassen. „Nein, ich möchte das ganze Album ausleihen. Warte mal, ich erinnere mich, wo es ist. Ich hole es selbst!“ Sie erhob sich und steuerte das Schlafzimmer an…
„Nicht!“, schrie Sigrid, „da ist Pedro drin!“ Als sie sich auf die Lippen biss, war es zu spät. Elsbeth drehte sich um. In ihrem Blick und ihrer Stimme lag sowohl Hass als auch Triumph.
„So, so, Pedro. Weiß Henning, dass du ihn betrügst?“
Blitzschnell entschied Sigrid, dass der Wortschatz des Vogels in diesem Fall das kleinere Übel war gegenüber dem Verdacht auf Ehebruch. Im Grunde hoffte sie jetzt sogar, dass Pedro seine gesammelten Flüche auf Elsbeth loslassen würde.
„Nein, Tante Elsbeth, das weiß er nicht, und zwar deshalb nicht, weil es nicht stimmt. Pedro ist kein Mensch, sondern unser Papagei. Er hat leider eine sehr unflätige Ausdrucksweise. Aber wenn du unbedingt ins Schlafzimmer willst… bitte!“ Sie ging an Elsbeth vorbei zur Tür, öffnete sie und blickte Pedro flehentlich an. Bitte, lieber Pedro, dachte sie, beschimpfe die alte Schreckschraube so, dass sie nie wiederkommt!
Und das tat er. Entzückt lauschte Sigrid seinen Schimpfwörtern, die hier nicht wiedergegeben werden sollen. „Ich habe dich ja gewarnt, Tante Elsbeth“, grinste sie.
„Die hast du ihm doch beigebracht!“, tobte Elsbeth unzutreffenderweise, „ich werde dieses Haus nie wieder betreten!“ Sie rannte durch den Flur zur Wohnungstür – das Fotoalbum hatte sie inzwischen vergessen –, riss sie auf und entschwand grußlos.
Sigrid rief sofort Henning an, der zum Glück gerade Zeit für ein Gespräch hatte, und berichtete ihm alles. „Unser guter Pedro!“, rief er. „Wir konnten den Kontakt zu Elsbeth nicht abbrechen, aber dank Pedro tat sie es nun selber. Ich bringe ihm eine große Tüte voller Papageien-Leckerlis mit. Und dann machen wir mal eine Liste aller Leute, die wir gern loswürden…“