Veröffentlicht: 17.01.2018. Rubrik: Menschliches
Im Heimatdorf
„Hier stand unser Haus“, sagte ich zu Bella. Zwar befand sich dort längst ein Neubaugebiet, aber ich erkannte die alte Eiche, in deren Schatten ich aufgewachsen war. „Wie schön, dass es den Baum noch gibt!“
„Ja, in dem bist du oft herumgeklettert. Du warst ein richtiger Wildfang. Immer musste ich auf dich aufpassen. Und was für Streiche du den Nachbarn gespielt hast! ‚Susi die Schreckliche‘ hießest du im Dorf. Das war aber scherzhaft gemeint, denn zum Glück waren deine Streiche immer lustig, nie boshaft.“
„Lebt noch jemand hier, den ich kannte?“
„Nein, niemand“, antwortete Bella. „Es ist ja auch schon so lange her.“
Inzwischen waren wir auf dem Aussichtsberg des Dorfes angelangt. „Das war mein Lieblingsplatz!“, strahlte ich. Gebannt betrachtete ich die Landschaft, die sich vor mir ausbreitete. Die Ebene, die von zwei Flüssen durchzogen und in der Ferne von einer Hügelkette begrenzt wurde, die Kleinstadt, in der ich mein Abitur gemacht hatte – sie waren noch da. Geändert hatte sich jedoch ihr Aussehen. Hatten früher zwischen unserem Dorf und der Stadt weite Felder gelegen, auf denen sich Hasen und Fasanen tummelten, so schienen die beiden Orte jetzt durch zahlreiche Neubebauungen fast ineinander überzugehen. Ich suchte nach Gebäuden, an die ich mich erinnerte, fand aber nur noch zwei oder drei. Alle anderen waren vermutlich entweder abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit umgebaut worden. Überall drehten sich Windräder. Die kannte ich natürlich, aber hier, wo es früher keine gegeben hatte, erschienen sie mir seltsam deplatziert.
„Hier habe ich meine Jugend verbracht“, sagte ich nachdenklich. „Danach habe ich ja geheiratet und bin mit meinem Mann nach Amerika ausgewandert. Dort hatte ich ein schönes, langes Leben. Ich habe mir aber immer gewünscht, mein Heimatdorf wiederzusehen. Danke, Bella, dass du mir das ermöglicht hast – und dass du immer für mich da warst.“
„Jetzt komm aber“, drängte Bella. „Sonst kriege ich den größten Ärger mit dem Chef. Solche Ausflüge an frühere Stätten schätzt er gar nicht, denn eigentlich sollen wir Schutzengel die Seelen unserer Schützlinge sofort nach ihrem Tod im Jenseits abliefern.“