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5xhab ich gern gelesen
geschrieben 2020 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 09.09.2020. Rubrik: Nachdenkliches


Gedanken beim Lesen einer Todesanzeige

Ich erfuhr es auf der Familienanzeigen-Seite der Regionalzeitung: Marion (Name geändert) war gestorben.

Meine Gedanken gingen zurück. Sie war mein Jahrgang. Vor mehreren Jahrzehnten hatte ich kurz mit ihr zusammengearbeitet. Danach hatten wir uns wieder aus den Augen verloren.

Als ich sie kannte, war sie immer etwas, nun ja, aufreizend gekleidet und geschminkt. Daher erstaunte es mich, der Anzeige zu entnehmen, dass sie danach offenbar eine brave Ehefrau, zweifache Mutter/Schwiegermutter und vierfache Oma geworden war. (Auch das Gegenteil habe ich schon erlebt. Eine Mitschülerin von mir, die extrem prüde erzogen wurde und z.B. keine Illustrierten lesen durfte, hatte später ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann...)

Die Todesursache ging aus der Anzeige nicht hervor. Zuerst dachte ich, die Formulierung „hat uns verlassen“ deute auf einen Suizid hin. Aber dann fiel mir ein, dass auf der Todesanzeige einer Verwandten von mir, die an Altersschwäche gestorben war, dasselbe gestanden hatte. Solche Sätze darf man nicht überinterpretieren. Zumal Bestatter und Angehörige meist keine Germanisten sind und im schlimmsten Fall sogar unfreiwillig komisch formulieren. „Im Alter von 80 Jahren rief Gott ihn heim“ (das klingt so, als sei Gott 80 Jahre alt), „sie starb unverhofft“ (das klingt so, als habe man ihren Tod nicht zu hoffen gewagt). Sprachlich richtig wäre: „Im Alter von 80 Jahren wurde er von Gott heimgerufen“, „sie starb unerwartet“.

Marion war, wie gesagt, mein Jahrgang – also noch keine Greisin, aber auch nicht mehr die Jüngste. Da ist ein natürlicher Tod zwar noch relativ selten, aber nicht undenkbar.

Ihre vier Enkelkinder tragen laut der Anzeige alle äußerst moderne Namen, sind also vermutlich noch sehr jung und werden sich später wohl kaum oder gar nicht mehr an sie erinnern können.

Ich las die Todesanzeige noch einmal und warf die Zeitung dann ins Altpapier. Mit Wehmut, weil ich an Marion und ihre Hinterbliebenen dachte – und mit Freude und Dankbarkeit, weil ich selber noch lebe.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von DER WORTKOTZER am 10.09.2020:

liebe Christine, dies ist ein Text, der mir aus der Seele spricht. Da könnte ich glatt den Glauben an die Menschheit zurückgewinnen. Klasse, gefällt mir sehr!




geschrieben von Michael Braun am 11.09.2020:

Ich stimme Wortkotzer zu. Früher waren Todesanzeigen immer ein Übel für mich. Aber je älter man wird und je mehr von den eigenen Leuten gestorben sind, liest man diese mit anderen Augen.




geschrieben von ehemaliges Mitglied am 12.09.2020:

die bewegenste Todesanzeige, die ich je las: 'Sie hätte so gerne noch einmal das Meer gesehen ...'




geschrieben von Christine Todsen am 12.09.2020:

Vielen Dank für Eure Kommentare! Zu RudiRatlos‘ Kommentar verweise ich auf das Projekt „Wünschewagen“, https://wuenschewagen.de: „Seit 2014 erfüllt das rein ehrenamtlich getragene und ausschließlich aus Spenden finanzierte Projekt des Arbeiter-Samariter-Bundes schwerstkranken Menschen einen besonderen Herzenswunsch und fährt sie gemeinsam mit ihren Familien und Freunden noch einmal an ihren Lieblingsort.“ (Allerdings müssen sie noch transportfähig sein.)

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