Veröffentlicht: 03.09.2020. Rubrik: Grusel und Horror
Der isländische Pass
Den Cousinen Eileen und Annika, beide Anfang zwanzig, war die schwere Aufgabe zugefallen, den Haushalt ihrer kürzlich verstorbenen gemeinsamen Großmutter Johanna aufzulösen.
„Guck mal!“, rief Annika plötzlich beim Leeren einer Schublade. Ihre Stimme klang so verdutzt, dass Eileen sofort zu ihr hinlief. Als sie das Dokument in Annikas Hand sah, traute sie ihren Augen nicht. Es war ein isländischer Pass, ausgestellt auf den Namen Jóhanna Hansdóttir.
„Das kann nicht wahr sein!“, rief Eileen. „Oma war doch keine Isländerin! Sie kam doch aus Dortmund!“
„Dem Pass zufolge wurde sie in Reykjavík geboren. Aber das Geburtsdatum stimmt. Und das Foto anscheinend auch. Es ist allerdings über fünfzig Jahre alt. Der Pass ist schon seit Jahrzehnten abgelaufen.“ Annika schaute ratlos drein.
„Ich kannte sie nur mit deutschem Pass“, sagte Eileen, „und Deutsch war doch ihre Muttersprache. Man hörte, dass sie aus dem Ruhrgebiet kam.“
Annika überlegte. „Jóhanna Hansdóttir – das ist ein isländischer Name mit der Bedeutung ‚Johanna, Tochter des Hans‘. Und ihr Vater in Dortmund hieß tatsächlich Hans! Er war aber kein Isländer!“
Angestrengt versuchten die Cousinen, eine logische Erklärung für den Pass zu finden, aber es gelang ihnen nicht. „Vielleicht war sie, bevor sie Opas Frau wurde, mit einem Isländer verheiratet und wurde eingebürgert… aber das würde den Geburtsort Reykjavík nicht erklären…“ – „Vielleicht hat sie eine gefälschte Geburtsurkunde vorgelegt, um schneller eingebürgert zu werden… aber ich kann mir nicht denken, dass sie fließend Isländisch sprach…“
Plötzlich lief es Eileen kalt den Rücken herunter. „Annika… in Island gibt es doch übernatürliche Wesen… vielleicht war Oma eins? Schade, dass Opa schon so früh gestorben ist. Von ihm wissen wir ja nur wenig. Auf jeden Fall war er Deutscher. Angenommen, er ist nach Island gereist und hat sich dort in eine Frau verliebt, die in Wirklichkeit ein Geistwesen war. Auch sie verliebte sich in ihn. Aber sie wusste, dass sie bei der Heirat mit einem Menschen die Geisterwelt würde verlassen müssen. Sie entschied sich für die Liebe und musste für immer zu einer Menschenfrau werden, aber mit ihrer letzten Zauberkraft erreichte sie noch, dass sie eine deutsche Identität bekam und Deutsch wie eine Muttersprachlerin reden konnte.“
„Eileen, du solltest Märchenautorin werden“, lachte ihre Cousine.
„Ich meine das ganz ernst, Annika. Und weißt du was? Im Internet werden viele DNA-Tests zur Entschlüsselung der Herkunftsregionen angeboten. So einen machen wir mal! Da es sich um unsere gemeinsame Oma handelt, müssten unsere Ergebnisse in Bezug auf sie übereinstimmen.“
Annika war einverstanden. „Meinetwegen, sofern es nicht zu viel kostet. Dann werden wir ja erfahren, ob Oma aus Dortmund oder aus Reykjavík stammte.“
Mit bebender Stimme sagte Eileen: „Vielleicht erfahren wir auch etwas ganz anderes.“
Die Cousinen schickten ihre DNA an zwei verschiedene Anbieter. Bei beiden musste mit 6-8 Wochen Wartezeit gerechnet werden. Doch schon nach vier Wochen wurde Eileen angeschrieben und nach viereinhalb Wochen Annika. Beide Schreiben waren fast gleichlautend. Die Kundin möchte doch bitte einen neuen Test einsenden, da mit dem ersten etwas nicht stimmen könne: ein Viertel der DNA scheine nicht-menschlichen Ursprungs zu sein.